Ein zweites typisches Beispiel aus der bisherigen Lektoratsarbeit. Ich sehe es unter der Überschrift: »Giftschrank«. Darin finden sich: Füllwörter (natürlich, also, immerhin, ohnehin, allerdings, jedoch…) und — Kitsch.
Eine wichtige Szene am Ende des 5. Kapitels war in grosser Gefahr, daran zugrunde zu gehen.
Auch der Wechsel vom Plusquamperfekt ins Perfekt (so hieß das im Osten, keine Ahnung, unter welchen Termini westdeutsche Kinder die Zeitformen lernen) ist stärker und fügt auch noch etwas hinzu: »Wir haben uns nie berührt…« (auch später nicht) statt »Wir hatten uns nie berührt…« (später schon?)
Natürlich hatten wir uns nie berührt. Das wäre undenkbar gewesen. Und doch wusste ich, als ich ihr zum ersten Mal mit gebührendem Abstand gegenüberstand, binnen Sekunden, wie ihr Haar roch, wie ihre Hüften sich anfühlten durch den Stoff ihres Kleides hindurch, wie ihre Lippen, die sich auf die meinen erst sanft schmiegten und schließlich pressten, und wie ihre Zunge schmeckte auf meiner Zunge; denn in den wenigen Sekunden, nachdem ich sie zum ersten Mal in der Wohnung von Elis Tante gesehen hatte, hatten wir uns umarmt und geküsst.
Es war mein erster Kuss. Und ich erlebte ihn, eine vollständige Unmöglichkeit, unter den Blicken von Rivkas gesamter Familie. Ich erlebte ihn, obgleich ich sicher zwei Meter von ihr entfernt stand und während ich sie nicht einmal ansah. Denn mein Blick war vor ihren Augen sofort geflüchtet. Anstatt sie anzuschauen, während Eli uns vorstellte, sah ich ihm ins Gesicht. Und es waren seine Lippen, die ich beobachtete, während er meinen Namen aussprach. Es waren seine Arme, mit denen ich Rivka umarmte. Durch seine Nase sog ich den Geruch ihres Haars und ihres Halses, und mit seiner Zunge schmeckte ich den Kuss, den sie mit ihm – Eli – getauscht hatte, vor einem Jahr vielleicht, womöglich aber auch erst vor kurzem.
Die Erregung, die ich verspürte und die mir regelrecht die Brust zuschnürte und den Atem nahm, diese Erregung war womöglich gerade deswegen so heftig und überwältigend, weil ich sie durch seine Erinnerung hindurch erfuhr, in der er sie wieder und wieder erlebt und in der sie sich mit jedem Erinnern verstärkt haben mochte, bevor sie sich nun mit meiner eigenen Erregung vermischte und sich verdoppelte, weil ich ja nicht nur den beiden bei ihrem Kuss zusah, sondern sie mit seinen Lippen küsste und mit seinen Händen festhielt und an mich zog, als wären es meine.
Er ist schüchtern, sagte Rivka. Sie funkelte mich an und lachte, vermutlich weil ich mit hochrotem Kopf und schweigend vor ihr stand und wohl den Eindruck vermittelte, als würde ich jeden Moment zu Boden gehen, weil mir schwindelte oder jedenfalls irgendeine unüberwindliche Schwäche jede Bewegung unmöglich machte.
Daraus wurde:
Natürlich haben wir uns nie berührt. Das wäre undenkbar gewesen. Und doch wusste ich, als ich ihr zum ersten Mal mit gebührendem Abstand gegenüberstand, binnen Sekunden, wie ihr Haar roch, wie sich ihre Hüften durch den Stoff ihres Kleides hindurch anfühlten – und wie ihre Lippen…
Es war mein erster Kuss. Und ich erlebte ihn, eine vollständige Unmöglichkeit, unter den Blicken von Rivkas gesamter Familie. Ich erlebte ihn, obgleich ich sicher zwei Meter von ihr entfernt stand und sie nicht einmal ansah. Denn mein Blick war vor ihren Augen sofort geflüchtet. Während Eli uns vorstellte, sah ich ihm ins Gesicht, und es waren seine Lippen, die ich beobachtete, während er meinen Namen aussprach. Es waren seine Arme, mit denen ich Rivka umarmte. Durch seine Nase sog ich den Geruch ihres Haars und ihres Halses ein, und mit seiner Zunge schmeckte ich den Kuss, den sie mit ihm, Eli, getauscht hatte, vor einem Jahr vielleicht oder auch erst vor kurzem.
Die Erregung, die ich verspürte, war womöglich gerade deswegen so überwältigend, weil ich sie durch seine Erinnerung hindurch erfuhr, in der er sie wieder und wieder erlebt und in der sie sich mit jedem Erinnern verstärkt haben mochte, bevor sie sich nun mit meiner eigenen Erregung vermischte.
Er ist schüchtern, sagte Rivka. Sie funkelte mich an und lachte, vermutlich weil ich mit hochrotem Kopf und schweigend vor ihr stand und wohl den Eindruck vermittelte, als würde ich jeden Moment zu Boden gehen.
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 23. September 2008 um 09:56 Uhr
Super. Endlich jemand, der Dir den Kitsch stiehlt!!!! Ein Lob an die Lektorin.
Am 23. September 2008 um 10:25 Uhr
Seufz. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass ich daran hänge! Was mir hier als Hinweis besonders gefallen hat:
Das erzählt (!), dass es ein Zungenkuss war, so dass alles Explizite oben auch in dieser Hinsicht entbehrlich ist.
Am 23. September 2008 um 10:36 Uhr
Ha ha… doch Du hängst an jedem einzelnen Wort. Aber wenigstens lässt Du Dir von manchen etwas sagen.
Am 23. September 2008 um 20:50 Uhr
Mir macht das Himmelangst. Jau, genau, das, worauf man besonders stolz war, fliegt durch Lektorensperberaugen raus … – dabei kann ich davon erst gerade die ersten Takte des Liedes singen, und obwohl ich dafür unendlich dankbar bin und bewusst, wie nötig es ist, nicht nur für das aktuelle Buch, sondern für die lebenslange Ausbildung: mich verlässt der Mut vollkommen. Dabei ist es keine Überraschung, man weiss von Anfang an, dass das der härteste Teil wird.
(Ich glaube, es war Michael Ende, der sagte: „kill your darlings“ – ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich immer zutrifft oder ob man nicht hin und wieder auf der eigenen Version beharren sollte. Bloss wie entwickelt man den Instinkt zu wissen, wann das der Fall ist.)