Die dunkle Nacht, der Wind und das Meer warfen ihn auf den Strand. Hier lag er fest, an seinen Balken gebunden. Bedeckt von Schaum. An die Erde gepreßt, in ihre sanfte Krümmung geschmiegt wie das Kind an die Mutter.
Nackt und ohne Erinnerung. Nur sein nächtliches Wachen hatte in ihm selbst wie ein Stern zwischen dem Wind und den Finsternissen gestrahlt. Innen. Draußen brüllten der Sturm und der Wirbel.
Die ersten Lichter eines neuen Tages und die Stille fanden ihn hingestreckt am Strand. Er erinnerte sich nur an die Richtung seines Ursprungs, die aufgehende Sonne und das Kreuz der vier Winde, an das er festgebunden war und das ihn auf dem Meere schwimmend unter dem Heulen des Sturmes bis zu diesem vom Wasser getrennten Land, inmitten Wind und Nacht, getragen hatte.
Er war nackt, ohne Erinnerung, nur gewillt, weiterzuleben. Vor Not von Sinnen. Sein Bewußtsein brachte es bloß zu Angst und Einsamkeit.
Bin ich noch jemand, fragte er sich endlich, als der Schmerz ihn gegen den Felsen warf und ihm Kraft und Bewußtsein schwanden; der Funke seines Wachens erlosch, und es blieb nur ein graues Sausen zurück, das dem Tod sehr ähnelte und in seinem geschwollenen Mund nach Blut und nach Salz schmeckte.
Er blieb an Land, eingefügt wie ein Feuerstein, von weißem, geschupptem Schaum bedeckt. Den Bauch an den Boden gepreßt.
Jener neue Tag hatte schon Sonne. Sie kam auch von seiten des Meeres. Ihr Licht weckte Vögel und Gesänge. Der neue Tag hatte Gesänge und glänzendes Gefieder. Die Vögel kamen bis zu ihm heran und setzten sich auf seine Unbeweglichkeit, in seinen struppigen, verklebten Bart, auf seine Arme, auf seine Schenkel und auf sein Kreuz, ohne ihn zu wecken.
Von fern, im Licht des Morgens, im Strahlen der Sonne erschien er wie eine gefiederte Schlange, die vom Meer her gekommen war, auf der Bahn des aufgehenden Gestirns.
So riefen es die Kinder ihren Eltern zu:
„Die Sonne hat eine gefiederte Schlange gebracht! Sie liegt auf dem Strand, und nur ihre Federn bewegen sich!“
Die Eltern machten kein Aufhebens davon. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, für ihre Kinder Nahrung zu suchen.
Nur die Kinder hatten Zeit und Neugier genug, um gefiederte Schlangen am Strand anzuschauen. Und sie waren gegangen, um sie aus der Nähe zu sehen.
Sie gingen Schritt für Schritt näher. Vorsichtig und in Furcht. Gegenseitig machten sie sich Mut, Der Keckste lief vorneweg, strauchelte, und sein Fall schreckte die Vögel auf, während der Flug die Furcht der Vögel dem Herzen der Kinder mitteilte.
„Sie hat sich in einen Menschen verwandelt! In einen weißen Menschen! Er hat Haare im Gesicht und am Körper!“
Und sie liefen und verbargen sich in der feuchten und düftereichen Masse des Waldes.
„Die gefiederte Schlange hat sich in einen Menschen verwandelt! In einen weißen, behaarten Menschen!“ riefen sie wieder ihren Eltern zu, die auch nun nicht achtgaben. Sie waren beschäftigt und nicht neugierig. Mit Steinwürfen und Stöcken fingen sie Gewürm, kleine Lebewesen und Vögel.
Die Kinder kehrten an den Strand zurück. Jetzt trugen auch sie Gerten und Steine.
Schon war er nur noch ein nackter, sonderbarer Mensch, der an den Strand geworfen worden und an ein Holz gebunden war. Er regte sich nicht. Von fern steinigten sie ihn. Von nahem schlugen sie ihn, und einer von ihnen, der Keckste, stach ihn, bis er blutete.
José López Portillo y Pacheco, aus: „Quetzalcóatl“
© Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978
••• Hat mir mal jemand gesagt: Ein Buch, das es nicht wert ist, mehrmals gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, einmal gelesen zu werden. Das mag sein. Es gibt aber auch Bücher, die soilte man nicht nochmals lesen, schon gar nicht nach vielen Jahren, ganz einfach, um nicht einer schönen Erinnerung verlustig zu gehen.
An den Roman „Quetzalcóatl“ von José López Portillo y Pacheco hatte ich beste Erinnerungen. Einer der poetischsten Romane, die ich je gelesen habe, nicht weniger als das. Als ich nun die Azteken-Märchen herausgesucht habe, nahm ich natürlich auch diesen Roman aus dem Regal und beschloss, ihn nochmals zu lesen. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
Poetisch ist er, das ja, aber auch pathetisch und katholisch bis ins Mark. Das Pathos kam mir vermutlich sehr entgegen, als ich dieses Buch – mit 17 – in meiner Stammbuchhandlung an der Berliner Friedrichstrasse gekauft habe. (Eine Sportsfreundin von mir arbeitete dort und sammelte für mich die interessanten Neuerscheinungen gern unterm Ladentisch.) Was mir damals aber gar nicht aufgegangen ist, wie Portillo hier die mexikanische Geschichte und den Quetzalcóatl-Mythos katholisch umdeutet. Bei ihm ist Quetzalcóatl ein gestrandeter, von teilweiser Amnesie befallender Christ, der den wilden Indios den Vielgötterkult mitsamt den Menschenopfern austreibt – bei denen die Priester den zu Opfernden das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust reissen – und ihnen auch sonst alles beibringt, was Zivilisation ausmacht. Er lehrt sie auch, dass Gott nur unsere Verdienste, das freiwillig selbst vergossene eigene Blut und unseren Schmerz liebt, der uns läutert.
Wo ich damals offenbar nur der Sprache, dem Mythos und Pathos gefolgt bin, lese ich heute den merkwürdigen Versuch, die zivilisatorischen Errungenschaften der Indios umzudeuten in die Früchte einer früheren, friedlichen, christlichen Eroberung des Anahuac-Landes durch den für einen Gott gehaltenen Quetzalcóatl.
Ganz schräg. Meine Erinnerung war mir lieber.