••• Ich komme kaum zum Lesen im Moment, jedenfalls nicht zu eigener Lektüre, also Stöbern in Büchern, die nicht gerade im Entstehen wären. Eine Ausnahme musste ich machen. Zu lange habe ich auf einen Roman von Alban Nikolai Herbst gewartet. Sie sind definitiv schwerer zu bekommen als zu lesen, so viel steht fest.
Herbsts Roman „Meere“ hatte, als er letztes Jahr im axel dielmann verlag erschien, bereits eine Odyssee hinter sich. Die Originalausgabe wurde kurz nach Erscheinen per einstweiliger Verfügung vom Markt gedrängt. Später gaben Gerichte einer Klägerin, die sich in „Meere“ allzu deutlich erkennbar porträtiert sah, Recht: Eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts sei gegeben und das Buch vom Markt zu nehmen. So etwas ist für Autor und Verlag eine Katastrophe. Glücklicherweise konnte Herbst mit einigen Änderungen am Text eine Wiederfreigabe erreichen, so dass der Roman seit November letzten Jahres wieder als Buch vorliegt.
Abgesehen davon, dass ich wissen wollte, wie Herbsts Prosa und sein Erzählen sich seit „Buenos Aires. Anderswelt“ verändert haben mögen, hat mich bei der Lektüre auch die Frage beschäftigt: Wie muss ein Text aussehen, gegen den ein Porträtierter vor Gericht zieht? Diese spezifische Neugier gebe ich unumwunden zu.
Alles Überlegen im voraus erledigte sich jedoch umgehend, als ich zu lesen begonnen hatte. Denn Herbsts Erzähltechnik hatte es mir sofort angetan. Das ist denn auch, was ich zuallererst über das Buch sagen kann: Es ist ein handwerkliches Juwel.
Herbst erzählt in der dritten Person, wechselt jedoch immer und mitunter mitten im Satz in die Ich-Form und spricht die verlorene Geliebte direkt an. Eingesetzt wird das Stilmittel gerade so oft, dass es sich nicht abnutzt. Und immer erzielt es die intendierte Wirkung: Plötzliches Wegbrechen jeglicher Distanz. Erzähler wie Leser werden aus der reinen Beobachter-Perspektive unvermittelt ins direkt Persönliche geworfen.
Ebenfalls virtuos ist Herbsts nicht-chronologisches Erzählen. Stellt man sich die Kapitel als Strecken auf dem Zeitstrahl der erzählten Geschichte vor und verbindet diese in der Vorstellung mit einer Linie, ergibt sich allein in der Zeitdimension eine regelrecht graphische Erzählstruktur. Wunderbar passt diese Technik des Erzählens zum Protagonisten Fichte, der ja Maler ist und sich in diesem Buch selbst erzählt, als würde er mit einem Pinsel lässige Bögen auf eine Leinwand werfen.
Doch entfernen wir uns einmal von der handwerklichen Meisterschaft und tauchen wir in den Stoff: Herbst, der selbst unter Pseudonym schreibt, gibt sich in diesem Roman zwei weitere Pseudonyme. Sie bezeichnen eine Identität, aus der der Ich-Erzähler kommt, und eine, die er sich selbst geschaffen und in die er sich selbst hineingehoben hat. Dass mich ein solcher Prozess vor dem Hintergrund der „Leinwand“ sofort fesseln musste, ist klar.
Ich fühlte mich nach der Einführung von v. Kalkreuth und Fichte zunächst aufs Glatteis geführt. So dicht scheinen Autor-Ich und Erzähler-Ich hier beeinander, dass man zwischen beiden kaum unterscheiden kann. Genau dies aber hielt ich zunächst für eine Finte. Ja, da sind die ungeheuren Ähnlichkeiten zwischen Herbst und Fichte und dessen Ansichten, Argumentationsformen und -wegen, sogar seinem Arbeitsalltag. Das aber nur, wenn man Herbsts Weblog, dem Arbeitsjournal und seiner öffentlichen Präsentation dort glaubt.
Ich erinnerte mich an einen Beitrag von Markus A. Hediger für die spa_tien-Ausgabe „literarische weblogs“, in dem er von einem Treffen mit Herbst berichtet und dem Empfinden von Nicht-Deckungsgleichheit zwischen Autor-Ich und Weblog-Ich. Wenn ich aber dort eine artifizielle, gewissermaßen fiktionalisierte Identität des Autors Herbst antreffe, also eine Ich-Welt, die bewusst geschaffen ist, dann kann ich eine literarische Figur, die dieser Fiktion ähnelt, nicht unbefangen gegenübertreten. Die Ähnlichkeiten werden kein Zufall, die Unterschiede mit Sicherheit bewusst gesetzt sein, als hätte man es mit einer Variation des Autor-Ichs zu tun, einem weiteren Entwurf einer möglichen Identität Herbsts.
Ich habe den Versuch, v. Kalkreuth/Fichte für etwas anders als A. N. Herbst zu halten, bald aufgegeben. Also schreibt Herbst über Herbst? Nichts dagegen zu sagen, zumal er so umsichtig ist, Fichte nicht Autor, sondern Maler/Bildhauer/Skulpteur sein zu lassen, was ihm einige wunderbare erzählerische Möglichkeiten eröffnet, nämlich über Bilder, Skulpturen und Installationen – also Werke nicht-sprachlicher Kunst – elementare Bestandteile der Erzählung zu transportieren, die man ansonsten nur in wahrscheinlich anstrengenden, weil un-erzählerischen Reflexionspassagen hätte unterbringen können. Die Wahl von Fichtes Berufung ist also ebenso eine technische Finesse wie der Umgang mit der Zeit in diesem Roman.
Bei aller Freude über das handwerkliche Repertoire und Können Herbsts habe ich das Buch dennoch nicht vollends zufrieden zuklappen können; und die ungeheure Nähe von Autor und Figur in diesem Roman macht es mir schwer, diese letztendliche Unzufriedenheit zu beschreiben.
Die Entwicklung der Figur hat mich am Ende ebenso enttäuscht wie die ganze Geschichte der gescheiterten Beziehung selbst, die Herbst hier ja erzählt. Diese Geschichte ist ein Allerweltsplot, der sich (leider) täglich in ungezählten Beziehungen wiederholt. Während des Lesens habe ich fortwährend auf die Wendung, die Besonderheit genau dieser Verbindung und Trennung oder eben die Wandlung einer der Figuren gewartet, die mir deutlich gemacht hätte, warum ich so detailreich von genau dieser Beziehung lesen muss. Diese Erwartung war am Ende enttäuscht. Fichte erlebt keine Katharsis. Er behält recht, der einzig mögliche Ausgang für sein modelliertes Selbstbild. Selbst wenn man Momente echter Entwicklung Fichtes in der Erzählung ausmacht, erscheinen sie wie Häutungen einer Schlange, bei der aus der alten Haut doch wieder die lediglich etwas älter gewordene gleiche Schlange hervorkriecht. Das ist schade und für die Figur ein unbefriedigendes Ende.
Mit einer Demontage des Selbstbilds Fichtes beispielsweise, einer echten Katharsis und Wandlung hätte ich auch ganz anders mit einem weiteren Problem umgehen können, das mir Herbsts Roman beschert: Was und wie nämlich Herbst erzählt, das ist wie einem persönlichen Tagebuch entnommen oder einem Gespräch unter engsten Freunden abgelauscht. Kein intimes Detail bleibt unerwähnt. Diese Intimität über einen Roman aber ins Öffentliche zu transportieren, muss einen guten (erzählerischen) Grund haben, will es nicht nur Selbstentblößung und bewusste oder unbewusste Verletzung der Intimsphäre anderer sein. Diesen Tabubruch kann Herbst für mein Empfinden erzählerisch nicht legitimieren. Und so bleibe ich am Ende mit dem unguten Gefühl zurück, auch noch das letzte intime Detail einer Liebesbeziehung erfahren zu haben, die mich eigentlich gar nichts anging.
Alban Nikolai Herbst: Meere (Roman)
axel dielmann verlag 2007
ISBN: 978-3866380042
20,- €
Am 27. August 2008 um 10:09 Uhr
[…] meere […]
Am 27. August 2008 um 16:11 Uhr
Die behauptete Nähe zwischen Autor und Figur würde letztlich teilweise intime Kenntnisse des Autors durch den Rezensenten voraussetzen. Ansonsten ist die Diskussion, ob ein Protagonist mit dem Autor identisch ist oder wie gross die Schnittmengen sind, so ungefähr das Langweiligste und Überflüssigste, was Literaturkritik untersuchen sollte. Das fragen nicht einmal mehr Gymnasiasten in ihren Aufsätzen, weil es für die Bewertung der literarischen Wertung vollkommen unsinnig ist.
Fällt der Kritik nichts mehr einfällt, was sie kritisieren kann, kramt sie schnell das „Autobiographische“ heraus oder protzt mit Intimkenntnissen, die Parallelen zwischen Protagonisten und Autor „enthüllen“. Um es deutlich zu sagen: Ich scheiß‘ auf solche Enthüllungskritik, die das anprangert, was sie selber betreibt.
Am 27. August 2008 um 16:24 Uhr
Da die Diskussion auch andernorts in diese Richtung geht, schreibe ich es nochmals deutlich:
Mich interessierte beim Lesen des Buches kein Prozess, der einmal stattgefunden hat. Es ist mir völlig wurscht, ob Fichte Herbst ist oder nicht und ob das Geschriebene autobiographisch ist oder nicht. Wenn man einen Menschen oder eine literarische Figur (ich mache da keinen Unterschied) seiner Intimsphäre beraubt, wie es hier geschieht, möchte ich das künstlerisch legitimiert wissen.
Ich frage mich wirklich, ob in den Weblogs heutzutage niemand mehr liest, der wirklich lesen KANN und WILL. Wo wird in diesem Beitrag etwas „enthüllt“? Wo steht da oben, es spielte für die literarische Beurteilung eine Rolle, ob „Meere“ Fiktion oder die Handlung real war? Nirgends.
Lesen. Denken. Dann schreiben.
Am 27. August 2008 um 16:54 Uhr
Hihihi…. wie sensibel die Autoren doch ALLE sind. ;)
Was ich nur kurz hinzufügen wollte:
Ich finde die Kritik gut geschrieben. Und mich hat der Artikel eher dazu animiert das Buch zu lesen als es nicht zu beachten. Ich finde es immer interessant zu sehen/lesen was andere (die ich kenne) als „belanglos“, „gut“ oder sonstiges bezeichnet.
@Benjamin: beim Lesen der Kritik hatte ich nicht den Eindruck, als ob es Dir völlig wurscht ist, ob Fichte Herbst ist oder nicht. Aber das hast Du ja jetzt im Kommentar verdeutlicht.
Am 27. August 2008 um 17:10 Uhr
Dieser Frage gehe ich oben lediglich nach, weil, wäre es so, jedes harsche Wort über Fichte dann auch ein harsches Wort an den Autor wäre. Und das hat nun in einer öffentlichen Besprechung wirklich nichts verloren.
Am 28. August 2008 um 23:22 Uhr
Das Wortspiel ‚künstlerisch legitimiert‘ hat es mir angetan.
Möchtest du es weiter ausführen?
Das würde mich freuen, auch wenn mein Interesse daran einfach nur – naive Neugierde ist.
Am 29. August 2008 um 00:06 Uhr
Wortspiel? Nun, bei anderer Gelegenheit gern. Aber sicher nicht als Kommentar zu diesem Beitrag.
Am 29. August 2008 um 00:28 Uhr
Das kann ich verstehen. Der Kindergarten, der um deine Rezension herum ausgebrochen ist, mißfällt doch sehr. Aber verwunderlich ist er nicht.
Zu ‚Wortspiel‘: Ganz naiv erscheinen mir die Epitheta ‚künstlerisch‘ und ‚legitimiert‘ disjunkt. Ich würde kein Regelwerk und keine Moral für Kunst anerkennen wollen, die ein Legitimieren überhaupt erst begründen könnten. Doch ich bin mir unsicher, ob diese Haltung nicht nur ein bockiges Verweigern ist und kein sich gewisses Ruhen in sich.
Letzendlich entscheidet vermutlich doch die Tat, wie so oft. Dennoch könnte es Spaß machen, ihr vorzugreifen oder zumindest ihr Schreiten zu imitieren. Was aber sicher schwer fiele und mehr verlangte als Jargon und Zitierfestigkeit. Ich vermiße leider die Selbsterklärung der Handelnden. Zu viel lese ich die Seminarweisheiten der das Handeln nur Schauenden.
Am 30. August 2008 um 10:48 Uhr
Hallo, Turmsegler. Du schreibst zwar, du möchtest das nicht hier ausführen, aber mich beschäftigt das doch sehr, deine Idee, dass auch literarische Figuren eine Intimsphäre haben, die man verletzen kann. In dem Zusammenhang fragt wahrscheinlich auch SuMuze nach der Legitimierung. Ich finde das eine echte metaphysische Frage und habe >DORT angeregt, darüber zu diskutieren. Es will da aber offenbar keiner mehr drauf eingehen. Herbst selbst scheint von deiner Rezension nur beleidigt zu sein und nicht sprechen zu wollen. Deshalb frage ich jetzt doch hier bei dir: Wie begründest du so eine Intimsphäre? Und wie weit ist eine literarische Figur, also eine Erfindung, rechtsfähig? Denn das bedeutet ja deine Idee. Um das auf die Spitze zu treiben, müsste ein Schriftsteller, der eine seiner Figuren tötet, auch dafür einen Grund haben und ihn eben auch legitimieren können. Was, wenn er das nicht kann oder willentlich nicht tut? Wer entscheidet, ob eine Legitimierung vorliegt oder nicht? Gibt es da, wie SuMUze vermutet, Normen? Und wie weit greift solch eine metaphysische Instanz von literarischer Schuld in die Wirklichkeit?
Die Frage stellt sich mir ganz unabhängig von dem Roman, den ich anders gelesen habe als du, also ich habe da kein persönliches Abgrenzungsproblem gehabt, ich sehe auch keine Intimsphärenverletzung, aber das ist in >DER Diskussion schon alles gesagt worden. Trotzdem ist deine Grundidee richtig groß. Man kann sie nur nicht einfach so stehen lassen, finde ich.
Am 30. August 2008 um 22:15 Uhr
Ich werde zu dem Thema in den nächsten Tagen einen Beitrag schreiben. Auf die Fragen hier gehe ich gern ein, und wird können das dann dort diskutieren.
Am 22. Januar 2012 um 20:44 Uhr
[…] Klappenbroschur bei Elfenbein unter dem Titel »Das bleibende Thier« erschienen. Das ist nach »Meere« der zweite Text von Herbst, vor dem ich tief den Hut ziehe, ungeachtet der Einwände, die ich […]