Sie gingen.
Wir blieben.
Wir waren nicht reif.
© Richard Marx (1943)
••• An einem Regenabend in der vergangenen Woche las mir ein lieber Freund, dem ich eine wesentliche positive Wende in meinem Leben verdanke, aus seiner Gedichtkladde vor. Seit Jahren hatte er mir seine Skizzen und Notizen über seine Jugend im München und Berlin der Nazizeit als Material zur Verfügung stellen wollen, es dann aber nie getan.
Erzählt hatte er mir zuvor schon mehrmals: von dem Plan des Zwölfjährigen, in der Feldherrenhalle eine Bombe zu legen, von der beharrlichen Weigerung des jüdischen Vaters, mit der ganzen Familie in die USA auszuwandern (obgleich man Visa und Bürgschaften hatte und „nur“ hätte aufbrechen müssen), vom Verschwinden des Vaters, vom ersten Deportationstransport, der München verließ und in Kaunas hielt, wo man alle Deportierten erschoss, von diversen Schicksalen der Menschen auf diesem Transport, die er zum Teil persönlich kannte und noch im Sammellager heimlich mit Lebensmitteln versorgt hatte, von seinem eigenen Überleben ab 1944 in einem Versteck in Berlin, ganz in der Nähe des Ortsteils, in dem ich meine Kindheit verbracht habe…
Ich hatte nie eine Ahnung, wie viel Material er gesammelt hatte, wie viel zu erzählen er bereit sein würde. Aber mir war immer klar gewesen, dass ich, wenn er das wollte, eine Erzählung oder einen Roman nach diesen Schilderungen schreiben würde. Wir kamen vor einigen Wochen nun noch einmal darauf zu sprechen, weil es in der „Leinwand“ ein Kapitel geben sollte, in dem sich seine Erinnerungen hätten unterbringen lassen.
Also haben wir einen weiteren Versuch unternommen und uns getroffen, um seine Materialien zu sichten. Notizen oder Erzählversuche habe ich auch dieses Mal nicht zu sehen bekommen. Ich vermute langsam, dass es sie gar nicht gibt und mein Freund alle diese Schicksale und die Erinnerungen an das eigene Überleben einzig in seinem Gedächtnis aufbewahrt. Man müsste Amnon Zichroni sein, um sie direkt von dort abschreiben zu können…
Bei unserem Treffen letzte Woche zog er jedoch aus Stapeln von Aktendeckeln eine Kladde mit wenigen Gedichten aus den Jahren 1943 bis heute. Es muss ihn große Überwindung gekostet haben, sie mir vorzulesen. Er schätzt meine Bücher, insbesondere das „Blau“ und die Gedichte. Er kennt meine starken Meinungen über bestimmte Dichter und Romanciers. Ich bin sicher, er hat ein vernichtendes Urteil befürchtet, wenn er mir aus seinen aufbewahrten Gedichten der letzten 70 Jahre vorlesen würde.
Unter den wenigen schüchtern vorgetragenen Versen sind mir drei sofort unauslöschlich im Gedächtnis geblieben, so dass ich ihn gebeten habe, sie hier im Turmsegler präsentieren zu dürfen.
In nur drei Zeilen formuliert er hier als Teenager unter dem direkten Eindruck der ersten Deportation Münchner Juden das ganze Drama des Überlebenden-Syndroms. Dabei handelt es sich um eine der perfidesten Spätfolgen des Holocaust. Wenn sich jene, die wie durch ein Wunder in den Lagern oder in Verstecken überlebt hatten, schämten, dass sie noch am Leben waren, womöglich als einzige einer ganzen weitläufigen Familie. Diese über Jahre bohrende Frage: Warum ausgerechnet ich? Und dann die Antwort, die dieser Dreizeiler zu geben versucht. Sie hat mich im Innersten getroffen.
Am 12. September 2009 um 22:26 Uhr
[…] dass ich zwar ein Buch von ihm – »Jugend« – spät entdeckt habe (ein Geschenk von Richard Marx), seitdem aber wie einen Schatz hüte und immer wieder zur Hand nehme, um mit Hochgenuss ein […]
Am 29. April 2010 um 00:32 Uhr
[…] (nicht nur von Beck!), der (nicht nur von mir) hochgeschätzte Münchner Psychoanalytiker Richard Marx und (z. T. weit angereiste) Mitglieder des Exil-PEN, dessen Mitglied ich jüngst geworden […]