Cracked Wall – © 2007 by Steffen Michel
Eli versuchte, mich zu beruhigen. Geduld, sagte er, sei auch eine der Übungen auf dem Weg der Frommen. Denn Ungeduld rühre immer von einem Ego her, das sich wichtiger nimmt als die Aufgabe, die ihm zugedacht ist. Und er erzählte mir, denn das war ja nun sein Beruf, ein Gleichnis aus dem Midrash, das mir helfen sollte, meine Geduld und meinen Platz im Plan des Ewigen wieder zu finden.
In Galiläa, erzählte Eli, lebte einmal ein Kaufmann. Dessen Geschäfte gingen gut. Er wurde wohlhabend und baute ein Haus. Er wurde reich und baute ein größeres Haus. Und als er noch reicher geworden war, baute er sich einen Palast, der eines Königs würdig gewesen wäre. Sein Erfolg rief viele Neider auf den Plan, die ihm übelwollten. Dem Kaufmann blieb nichts anderes übrig, als rings um seinen Palast eine übermannshohe Mauer zu errichten. So lebte er einige Jahre und war zufrieden. Eines Tages, als die Sommersonne besonders heiß herabsengte, kam ein Bettler an dem Palast vorbei. Er hatte nur noch ein kleines Stück Brot im Bündel, aber er klagte nicht. Ihm war lediglich furchtbar heiß. Er setzte sich im Schatten der Mauer auf den nackten Boden, wusch seine Hände mit Sand und sagte die Bracha über sein Stück Brot. Er aß, wurde satt und dankte dem Ewigen – für das Brot und das schattige Plätzchen, das er ihn hatte finden lassen. Dann ruhte er noch eine Weile im kühlen Schatten der gewaltigen Mauer und ging schließlich weiter. Als er fortgegangen war, bebte die Erde. Der Palast mitsamt der großen Mauer, die der Kaufmann zu seinem Schutz errichtet hatte, brach in sich zusammen, und der Kaufmann starb unter den Trümmern, in die sein Wohlstand versunken war. Er war nur geboren worden, seine Geschäfte waren nur gut gegangen, sein Wohlstand nur zu Reichtum und noch größerem Reichtum und die Neider nur missgünstig geworden, damit er die Mauer errichtete und der Ewige jenen Bettler, der ihm für das kleine Stück Brot und die Pause in der Kühle dankte, in ihrem Schatten für eine Stunde ausruhen lassen konnte; und niemand hat es je erfahren.
Als Eli zu Ende erzählt hatte, schwiegen wir lange.
Er, wusste ich, hatte seine Lektion gelernt, ich die meine noch nicht.
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 7. September 2008 um 19:22 Uhr
[…] einmal wurde ich an Elis Gleichnis vom Kaufmann und dem Bettler erinnert. Nathan Bollag starb, nachdem ich als frisch zugelassener Arzt zu ihm nach Zürich […]
Am 10. Dezember 2009 um 09:51 Uhr
[…] der »Leinwand« zitiert Zichronis Freund Eli Rothstein den Midrasch, und Zichroni wird fortan das Gefühl nicht mehr los, wann immer er meint, sich seiner […]