Hätte damals jemand die Gespräche zwischen mir und Eli belauscht, hätte er Eli sicher für altklug gehalten und mich für allzu unkritisch gegenüber allem, was er zu sagen hatte. Ich sah das natürlich anders. Ich hatte unendlich viele Fragen, die unsere Rabbonim ebenso unbeantwortet ließen, wie mein Vater oder mein Onkel Nathan wohl auch eine Antwort vermieden hätten, weil sich die Fragen wie auch die potentiellen Antworten im äußersten Randbereich des religiös Sanktionierten bewegten.
In meinen Augen war Eli vor allem mutig. Er scheute sich nicht, nach Antworten zu suchen und sie zu geben, ganz gleich, ob er sich mit seinen Ansichten, wären sie publik geworden, verdächtig gemacht hätte. Sein Umgang mit den Quellen, seine unermüdliche Suche und die Schlüsse, die er aus seinen Funden zog, erschienen mir damals schon als Ausdruck wirklicher Weisheit, wie man sie ohnehin nicht erwerben kann, sondern höchstens geschenkt bekommt – nach vielen Lebensjahren oder aber in Gestalt besonders eindrücklicher Erfahrungen. Und die hatte Eli ja zweifellos gemacht. Immerhin hatte er bereits dem Tod ins Auge gesehen.
Aus dem Fundus historischer rabbinischer Persönlichkeiten hatte er sich zwei Vorbilder erkoren: Elasar ben Asarya und Elisha ben Avuya.
Ersterer war mit gerade siebzehn Jahren zum Nasi und Vorsteher des Sanhedrins in Yavne ernannt worden. Nach seiner Wahl hatte der Ewige sein Haar und seinen Bart über Nacht weiß werden lassen, um auch den unverbesserlichen Spöttern, die ihn für zu jung und unerfahren gehalten hatten und gegen die Wahl opponierten, die Zähne stumpf zu machen.
Elisha ben Avuya war im Talmud nur bekannt als Acher, der Andere, denn sein Name sollte von niemandem mehr genannt und so getilgt werden. Ihm war gelungen, was vor und nach ihm nur drei andere Rabbonim vollbrachten: allein kraft seines Geistes nämlich aufzusteigen in die sieben himmlischen Paläste, vor den Thron des göttlichen Glanzes zu gelangen und den Ewigen inmitten der Scharen von Engeln zu schauen.
Dieser Aufstieg oder eigentlich Abstieg in die Tiefen mystischer Erfahrung war jedoch nicht die Ursache seiner Ächtung gewesen. Acher wurde er genannt, weil er nach seiner Rückkehr in die diesseitige Welt vom Weg der Torah abgegangen war. Dabei hatte er nicht etwa den Respekt vor dem Gesetz verloren, im Gegenteil.
Als einer der größten Lehrer seiner Zeit unterrichtete er weiterhin einzelne Schüler. Der Talmud berichtet von einer Szene, die Eli Wochen des Nachdenkens beschert hatte: Am Schabbes ritt Elisha ben Avuya durch die Stadt und entweihte so öffentlich den heiligen Ruhetag. Neben ihm aber lief sein Schüler, und Elisha lehrte ihn das Gesetz, das er selbst im gleichen Augenblick brach. Als sie zur Schabbesgrenze kamen, die sein Schüler nicht überschreiten durfte, hielt Elisha sein Pferd an und wies seinen Schüler darauf hin, dass er ihm nun nicht weiter folgen dürfe. Der Schüler kehrte um. Elisha selbst ritt weiter.
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 13. August 2008 um 00:31 Uhr
[…] verbindliche Erklärung für Elishas Abfall vom gesetzestreuen Leben hatten die Schriften nicht zu bieten. Eine Geschichte immerhin versuchte, […]
Am 20. August 2008 um 12:03 Uhr
Was ist die Schabbesgrenze? Ist Schabbes raumzeitlich, nicht nur zeitlich?
Und warum darf man am Schabbes nicht reiten? Weil das Pferd auch nicht arbeiten soll? Oder weil Elisha vom Sattel aus unterrichtet? Oder wegen der Lärmemission durch Hufgeklapper?
Oder stelle ich mir das viel zu konkret vor, weil es eigentlich ein mystisches (Un)gleichnis oder so etwas wie ein Zen-Paradoxon ist?
Ach, ich gäbe einen miserablen Theologen ab. :-)
Am 20. August 2008 um 13:44 Uhr
Man darf sich am Schabbat nur max. 2000 Amot (Ellen, ca. 1000m) von seinem Wohnort entfernen. Das ist nicht die Wohnung, sondern der Ort. Man zählt ab der letzten Behausung, die noch zur Stadt gehört oder ab der Stadtmauer bei Städten, die eine solche haben und wenn sie noch immer die Stadtgrenze bildet.
Reiten ist tatsächlich untersagt, weil der Schabbat auch den Tieren als Ruhetag zusteht.
Elisha hat also das Gesetz gleich mehrfach gebrochen: indem er überhaupt auf einem Pferd ritt und indem er sich über die Schabbesgrenze hinweg von der Stadt entfernte.
Am 20. August 2008 um 14:17 Uhr
Das ist poetisch und weise.
Auf den ersten Blick fand ich es seltsam, so aus dem Herzen einer nomadischen Kultur. Aber wenn mans recht bedenkt … Gerade unterwegs macht das erst recht Sinn, damit sich die Kräfte nicht erschöpfen. Heutzutage ist das wohl wesentlich schwerer einzuhalten; Milchviehställe, Spitäler und Feuerwehren müssten auf der Datumsgrenze erbaut werden, von sturen Chefs ganz zu schweigen.
Davon könnten sich die Hardcore-Protestanten eine Scheibe abschneiden, auf deren Mist der 24h-Kapitalismus gewachsen ist.
Und dass es mich überrascht und bezaubert, ist eigentlich bedenklich. Mir bedeutet der Sonntag nichts, ich schiebe einen Ruhetag ein, wenn ich ihn brauche oder glaube, ihn zu verdienen. Vielleicht hat das gerade damit zu tun, dass der hiesige Sonntag ausserhalb der Wohnung der turbulenteste Tag der Woche ist und ich mich dem hyperaktiven Getümmel nicht aussetzen mag.
Am 20. August 2008 um 15:12 Uhr
Schwierig ist das eigentlich gar nicht.
Allein der Verdacht von Lebensgefahr setzt die Regeln außer Kraft, weil es heißt: Du sollst die Gesetze meiner Lehre halten, auf dass Du lebest…
Feuerwehr und Krankenwagen können also auch dann ausrücken. Auch für Krankenhäuser gibt es Erleichterungen. Man muss ein Krankenhaus natürlich auch so bauen WOLLEN, dass es schabbes-sicher ist.
Persönlich ist es – finde ich – gar kein Problem innerhalb der Schabbesgrenze zu bleiben. Wenn man, wie wir, in der Münchner Innenstadt wohnt, wäre es ohnehin eine beachtliche Leistung, die Schabbesgrenze überhaupt zu Fuß zu erreichen.
Am 20. August 2008 um 16:06 Uhr
In der Schweiz wäre es fast noch einfacher. Da sind die Käffer so nah zusammengebaut, dass man gar nicht weiss, wo eins aufhört und das andere anfängt.
Am 24. August 2009 um 10:44 Uhr
[…] kann du Andrer das Zweifeln nicht lassen und das Ich vor dem Du. So werde ich wohl ein Gast bleiben müssen im […]