Richard Marx

24. Januar 2018

Richard Marx (29.12.1924-17.01.2018)

So ist Verwandlung ewig,
nicht das Bleiben,
sekundenhaft Begegnen
o nimm es ernst!
Lass zu, dass Du ins Ich eingehst
des andern
Lass diesen andern in Dir sein,
Du sein, – nur dies ist Sein …,
ist Ewigkeit im Jetzt.

Richard Marx (29.12.1924-17.01.2018)

••• Einer der bedeutendsten Psychoanalytiker der ersten Generation nach Freud wurde heute auf dem Münchner Waldfriedhof mit einer Trauerfeier verabschiedet. Ich bin gebeten worden, dort zu sprechen. Das war kein leichter Gang. Meine Frau sagte am Morgen noch zu mir: Es wäre gut, wenn du versuchst, nicht zu weinen. Keine leichte Sache, wenn man bedenkt, dass ich bei ihm überhaupt erst gelernt habe zu weinen.

Liebe Familie Marx, liebe Angehörige und Freunde,

für die meisten von Ihnen bin ich ein Unbekannter. Dass ich heute hier sprechen kann, um Richard zu würdigen, ist eine unverdiente Ehre. Viel lieber hätte ich vor seinen aufmerksamen Ohren über ihn gesprochen als aus diesem Anlass. Ein Mann wie Richard Marx hat sehr viele Facetten. Ich will mich an dieser Stelle auf jene beschränken, die ich am besten kannte. Sehen Sie mir nach, dass ich ein wenig von mir sprechen muss, um etwas über ihn zu sagen.

Vor 21 Jahren hatte ich in Schwabing einen Termin. Ich wollte da nicht hin. Alles in mir sträubte sich. Andererseits war ich vierzig Minuten zu früh am Haus Orpheus, um den Termin auch ja nicht zu verpassen. So musste ich spazieren gehen, um die Zeit zu überbrücken. Ich lief am Ungererbad vorbei zum Schwabinger Teich. Und da stand ich dann lange Minuten und kämpfte mit mir, um schließlich doch zum Orpheus zurück zu gehen und bei Richard Marx zu klingeln. Ich nahm nicht den Fahrstuhl sondern die Treppe. Das zögerte das offenbar Unvermeidliche noch ein wenig hinaus. Dann schlich ich den Gang entlang, bis ans Ende und schließlich nach rechts bis zur letzten Tür. Und da stand er dann und begrüßte mich.

Ich war damals der Meinung, dass ich mit Glück vielleicht noch ein grandioses Buch schreiben und mit spätestens Dreißig kinderlos sterben würde, von Gottes Blitz getroffen oder durch eigene Hand. Mir blieben also nur drei Jahre. Warum sollte ich da auch nur eine Stunde bei einem Analytiker verschwenden? Niemals, dachte ich, als ich das Zimmer betrat, würde ich mich auf dieses Sofa legen, das aussah, als wäre es direkt aus Freuds Praxis ins Hier und Jetzt teleportiert worden. Mit den Sesseln konnte ich grad noch leben. Dass ich ihn verklagen würde, habe ich ihm auch gleich gesagt. Wenn ich nicht mehr schreiben könnte nach dem ganzen Hokuspokus. Das müsse ihm ja mal klar sein. Aber es hat ihn nicht geängstigt. Naja, meinte er, vielleicht wollen Sie es am Ende gar nicht mehr und danken mir, dass Sie es nicht mehr müssen. Das fand ich eine interessante Verdrehung. Konnte es denn sein, dass das, was mir in meinem Leben unentbehrlich erschien, gar nicht so wichtig war?

Auf diesen ersten Termin folgten viele weitere. Schon bald lag ich doch auf dem Freudschen Möbel. Mitunter fühlte es sich an wie ein Nagelbrett. Manchmal aber auch lag man darauf wie auf Wolken. Ich war sehr ungeduldig. Dass er sich von mir unterhalten ließ und dafür noch Geld bekam, fand ich unerhört. Ich war mir mitunter nicht sicher, ob er nicht sogar schlief! Man konnte ja nicht in jeder Stunde unterhaltsam sein. Und darum ging es schließlich auch nicht. Aber worum ging es dann? Das war mir nicht klar, und ihm war es lange nicht zu entlocken. Das Warten auf die Erleuchtung war peinigend. Seine Geduld hingegen schien unerschöpflich.

Unerschöpflich schien auch sein Verständnis. Die dunkelsten Geständnisse beunruhigten ihn nicht. Alles schien ihm schon einmal begegnet zu sein und zwar in noch finstrerer Schattierung. Alles kein Grund zur Aufregung. Diese Ruhe konnte mich gelegentlich auf die Palme bringen. Er selbst geriet in Rage wohl nur angesichts von Nazis, Rassisten und schlechten Therapeuten – und natürlich wenn man die Stunde verpasste. Das ist selten vorgekommen, und es waren die einzigen Momente, in denen er streng mit mir sprach: Man müsse diese unsere Arbeit schon ernst nehmen und sich strikt an die Regeln halten!

Es gab in den Jahren der Analyse einige bedeutsame Momente. Ich will nur den wichtigsten erwähnen, weil er mir unvergesslich ist und mein späteres Verhältnis zu Richard Marx geprägt hat. Ich weiß nicht mehr, was der Auslöser war, nur noch, dass der Mann, dessen Spezialität doch das Zuhören und sparsame Kommentieren war, zu sprechen begann und zwar von sich selbst: vom Verlust des Vaters, vom ersten Deportationstransport, der München verließ, von diversen Schicksalen der Menschen auf diesem Transport, die er zum Teil persönlich kannte und noch im Sammellager heimlich mit Lebensmitteln versorgt hatte, von seinem eigenen Überleben ab 1944 in einem Versteck in Berlin, ganz in der Nähe des Ortsteils, in dem ich meine Kindheit verbracht habe… Da blätterte sich nun vor mir ein Leben auf, und ich sagte keinen Mucks, um ihn nur ja nicht zu unterbrechen.

In dieser Stunde ist für mich ein Damm gebrochen. Es war unmittelbar spürbar, wie geglückte Beziehung die Wunden von nicht geglückten Beziehungen heilen kann. Mein eigener Großvater, drei Jahre vor Richard geboren, hat Zeit seines Lebens nicht mit mir über sein Überleben sprechen können. Richard schon. Von da an schien alles möglich und aussprechbar. Natürlich gab es noch viel zu verhandeln und zu erforschen in jenen 50-Minuten-Etappen auf dem Sofa im Haus Orpheus. Aber von jenem Tag an war alles leichter.

Als Teenager schon habe ich das Handwerk des Schreibens gelernt, das Handwerk des Lebens erst viel später bei Richard Marx. Und das war die vielleicht wichtigste Erkenntnis: dass es nicht nur darum geht, Heilung zu finden, sondern auch und vor allem darum, dass man lernt, wie man in diesem Zustand bleibt.

Ich bin älter geworden als Dreißig und unterdessen Vater von vier Kindern. Meine wichtigeren Bücher habe ich Jahre nach der Analyse geschrieben. Ich wohne heute neben dem Ungererbad und gehe mit den Kindern oft am Schwabinger Teich spazieren. Mein Leben wäre deutlich anders verlaufen, wenn ich vor 21 Jahren nicht bei Richard Marx geklingelt hätte.

Man muss es deutlich sagen: Richard wurde auf geradezu unglaubliche Weise durch Liebe das Leben gerettet. Wie ein Spiegel hat er diese Liebe, von der er viel in seinem Leben erfahren durfte, reflektiert. Mit vollen Händen hat er zurückgegeben. Aus der unbeirrbaren Überzeugung heraus, dass Heilung möglich ist, hat er selbst unzählige Leben gerettet und noch mehr in eine glücklichere Richtung gewendet. Meines gehört dazu. Dafür werde ich immer dankbar sein.

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