Statue der Inmaculada auf dem San Cristóbal
••• Es fällt mir schwer zu schreiben. Dabei bin ich an einem Sehnsuchtsort. Vierunddreißig Jahre habe ich darauf gewartet, einmal durch die Straßen von Santiago de Chile zu gehen. Jetzt bin ich hier. Und wäre ich im Vollbesitz meiner Kräfte, würde es nicht mehr als diese Fakten brauchen, um einen ganzen Regenbogen an Geschichten aufzuspannen. Aber es fällt mir schwer zu schreiben. Wie kann das sein?
Als ich vor fast einem Jahr die Einladung zum Filba-Festival in Buenos Aires erhielt, war mir sofort klar, dass ich diese Gelegenheit nutzen würde, um nach Chile zu reisen. Drei Dichter, die mich maßgeblich geprägt haben, stammen von hier: Gabriela Mistral, Pablo Neruda und Antonio Skármeta. Dabei war Skármeta derjenige, über den mir die beiden anderen überhaupt erst wirklich zugänglich wurden.
Blick auf Santiago vom San Cristóbal
Viele chilenische Künstler fanden nach dem Militärputsch 1973 in der DDR eine vorübergehende oder auch längerfristige Exil-Heimat. Diesem Umstand verdankten wir Leser in der DDR den Zugang zur progressiven chilenischen Gegenwartsliteratur. Skármetas Erzählungen rund um den »Radfahrer vom San Cristóbal« erschienen 1982 im Aufbau-Verlag unter dem Titel »Alles verliebt, nur ich nicht«. Die Übersetzungen der Romane folgten, von »Ich träumte, der Schnee brennt« und »Aufstand in León« (über die Revolution in Nicaragua) bis zum »Haus auf den Klippen«, später weithin berühmt geworden unter dem Titel »Il Postino«, unter dem der Roman auch verfilmt worden ist.
Den Band mit Erzählungen habe ich auf dieser Reise dabei und wieder gelesen. Die Erzählung »Ein Wirbel beim Tanz« und der Roman »Il Postino« bringen Skármeta mit den beiden anderen Dichtern zusammen. In »Ein Wirbel beim Tanz« schreibt Skármeta von den letzten Tagen der Mistral. Ein gestrandeter chilenischer Schriftsteller ohne Veröffentlichungen wohnt einige Zeit bei »der Alten«, über die er sich nur despektierlich äußert. Als Abschiedsgeschenk, als er schließlich, von ihr wieder aufgepäppelt, weiterziehen will, wünscht sie sich eine chilenische Fahne. Die ist in New York, wo die Erzählung spielt, schwer aufzutreiben. Er müsse sich irren, sagen ihm die Händler, ein Land »Chile«, das gäbe es doch gar nicht. Er meine vielleicht Kuba oder China. Schließlich erklärt sich ein jüdischer Schneider bereit, die chilenische Fahne zu nähen, eigens für die »Alte«, damit sie ihren Willen hat und der undankbare junge Dichter weiterziehen kann.
Wenige Tage später stirbt die »Alte«, und die Fahne liegt auf ihrem Sarg. Eigens dafür hatte sie sie sich gewünscht. Und das alles lässt Skármeta den älter gewordenen und nach Chile zurückgekehrten Dichter im angetrunkenen und sentimalen Zustand seiner Geliebten erzählen. Gegen diese zehn Seiten ist die gesamte deutsche Gegenwartsliteratur blutleeres Gewäsch.
Isla Negra
In »Il Postino« geht es um den Briefträger Pablo Nerudas in Isla Negra, jenem kleinen Ort an der Pazifikküste, etwa 100 km von Santiago entfernt, in dem Neruda den Großteil seiner berühmtesten Werke schrieb: Die »Elementaren Oden« etwa oder den »Canto General«.
Also bin ich nicht direkt nach Buenos Aires gereist, sondern zunächst nach Chile. Ich wollte auf den San Cristóbal steigen und vom Heiligtum der Inmaculada Concepción auf Santiago hinabschauen. Ich wollte die Moneda sehen und den Hut vor dem Denkmal Allendes neben der Moneda ziehen. Ich wollte die Studenten auf den Grünstreifen der Avenida de Providencia Pause machen sehen, wie Skármeta es beschreibt, an den grünen Hängen des Santa-Lucia-Hügels, und ich wollte das Haus auf den schwarzen Vulkansteinklippen besuchen.
Isla Negra
Natürlich ist das ein sentimentaler Aufenthalt. Ich werde nie wieder Teenager sein, so leicht und stark beeinflussbar wie seinerzeit von der chilenischen (Exil)-Literatur und direkt im Gefolge von der lateinamerikanischen Literatur allgemein, soweit man bei uns von ihr erfuhr, also nur von den ganz Großen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass dieser Aufenthalt mich so berühren wird.
Der Besuch in Isla Negra heute war entzaubernd und erhellend zugleich. Neruda war am Ende doch auch nur ein dicker Angeber, der sich bestens auf Selbstinszenierung verstand. Ein selbsternannter »Seemann«, der nie ein Schiff betreten wollte, weswegen sein eigenes neben dem Haus auf dem Trockenen liegen musste? Ich kann und will ihm nichts vorwerfen. Er war ehrlich, wenn er sagte, dass er sich mit Spielzeug und Erinnerungen an seine Kindheit umgeben müsse. Denn dort sei die Wurzel seiner Dichtung. Mit dem verspielten Kind in ihm in Kontakt zu bleiben, sei die beste Möglichkeit für ihn, auch im Jetzt glücklich zu sein. Solche Worte sind schwer zu ertragen, wenn man mit der eigenen Kindheit möglichst nichts mehr zu tun haben möchte.
Isla Negra
Auf dem Rückweg nach Santiago war ich wütend. Ich verschwende meine kreativen Energien auf Softwareentwicklung. Software ist veraltet, sobald man sie in Betrieb nimmt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Code, den man heute schreibt, in zehn Jahren nicht einmal mehr lauffähig ist, wenn er denn überhaupt noch von irgendwelchem Wert ist. Warum schreibe ich dann nicht lieber? Warum mache ich nicht einfach Literatur? Nun, abgesehen davon, dass drei Kinder essen und bekleidet und gebildet werden wollen, was Geld kostet, das man mit Literatur kaum verdienen kann, gibt es noch einen anderen Grund: Es ist genauso sinnlos wie Software zu schreiben. Will man irgendwie durchkommen, muss man sich zum Narren des Literaturbetriebs machen, sich selbst vermarkten, sich selbst verraten. Alle drei Chilenen, die ich so verehre, haben Literatur gemacht, die etwas bewegt hat. Es ging um etwas. Es ging sogar um große Beträge. Und daran bin ich erinnert, wenn ich nun ein paar der Orte selbst besuchen kann, die in den Werken dieser drei eine Rolle spielen.
Isla Negra
Allein die Anden! Caballero Calderón schrieb 1966 in seinem Buch »Der gute Wilde«, man dürfe nicht vergessen, dass der hispano-amerikanische Schriftsteller von der »Landschaft förmlich aufgefressen« werde. Das versteht man nur zu gut, wenn man über den morgendlichen Bergen über Santiago eingeflogen ist oder den Weg von Santiago an die Küste gemacht hat. Diese Landschaft verströmt einen spröden Zauber, der seinesgleichen sucht.
Das alles macht mir unbändige Lust, wieder zu schreiben, und erinnert mich doch mit Wucht auch daran, warum ich es so sinnlos finde, es zu tun.
Mistral, Neruda und Skármeta waren und sind Botschafter ihres Landes in aller Welt gewesen – nicht symbolisch, sondern de facto! Und ein Land, das seine Dichter zu seinen Botschaftern macht, ist mir sympathisch, bei aller blutiger Vergangenheit. Dichter als Botschafter! So sollte es sein.
Zu schade, dass ich schon gehen muss. Ich werde noch einmal hierher kommen müssen – nicht allein und mit viel mehr Zeit.
Am 10. Oktober 2016 um 14:33 Uhr
Lieber Benjamin, Skarmetas Buch über den Postboten von Neruda hiess „Mit brennender Geduld“. Grüsse aus der Maxvorstadt
Am 11. Oktober 2016 um 22:29 Uhr
Liebe Philine, in der DDR ist das Buch unter diesem Titel erschienen. Ich fürchte allerdings, dass die meisten das Werk nur unter dem Filmtitel kennen. Ich selbst benutze »mit brennender Geduld« schon lange als feste Redewendung. So sehr hat sich mir der Titel eingeprägt.
Am 11. Mai 2017 um 02:40 Uhr
Übrigens die Stadtteilbibliothek Friedrichshain (jetzt Friedrichshain-Kreuzberg) hat ihren alten bzw. „angestammten“ Namen wieder… – Pablo-Neruda-Bibliothek… – Siehste mal, geht nicht, geht nicht… :-)