••• Undine Materni schickt zu gewissen Anlässen gern Gedichte, auch zu Weihnachten. Und fast immer sind das Gedichte, die es in sich haben. Auch heute kam so ein Jahresenddgruß und hat mir einen Hieb versetzt.
Das hat sicher mit meiner jüngsten Lektüre zu tun. Ich hatte zwei Wochen Urlaub, ein wenig Zeit zum Lesen und zwei Bücher dabei, die ich auf dem Tag der unabhängigen Verlage im Münchner Literaturhaus mitgenommen habe. Zum einen von Chaim Noll »Der Schmuggel über die Zeitgrenze«, seine DDR-Erinnerungen, angefangen bei der Kindheit im zerbombten Berlin über die Jugend als nach und nach desillusionierter Spross einer Nomenklatura-Familie und seine Wehrdienstverweigerung bis zur schlussendlichen Ausreise aus der DDR im Jahre 1983.
Ich habe dieses Buch in einem Zug gelesen. Noll ist nur wenige Jahre jünger als mein Vater, und Noll und meine Biografien haben viele Berührungspunkte. Sogar die gleiche Schule haben wir besucht, Aufsätze über gleiche Themen geschrieben, und und und … Anders als ich hat Noll jedoch Tagebuch geführt, und es ist ihm gelungen, diese Tagebücher in den Westen zu retten. Bevor sich das DDR-Papier ganz auflöst und diese Dokumente verlorengehen, hat er auf Anregung seines unterdessen leider verstorbenen Agenten Uwe Heldt seine Erinnerungen in diesem Band zusammengetragen, angereichert mit allerlei Details aus nachträglich in den letzten Jahren geführten Gesprächen.
Sie wollen wissen, warum der Kaffee bei der Witwe Egon Erwin Kischs in Ostberlin so gut schmeckte? Dann nehmen Sie doch diese Neugier zum Anlass, in dieses Zeitdokument einzutauchen. Es wird keine Enttäuschung geben, denn eine wesentliche Qualität dieser Erinnerungen ist Nolls – ich kann es nicht anders sagen: anständiger – Umgang mit den erwähnten Personen. Man kann Wahres schreiben, ohne zu denunzieren.
Die Gefahr von Flashbacks und reaktiv-depressiven Anwandlungen ist natürlich groß. Da sei der Leser gewarnt.
Dass in Nolls Erinnerungen viel von Verrat die Rede ist, kann nicht verwundern. Von Verrat und Desillusionierung hat auch Hans Sahl zu berichten. Er war – wie Noll – ein jüdischer Emigrant, musste Deutschland in der 1930er Jahren verlassen und kehrte erst 1989 aus dem US-Exil nach Deutschland zurück. Im Weidle-Verlag ist vor einiger Zeit schon ein Band mit Sahl-Gedichten erschienen, den dieser zuerst in einer Subskriptionsauflage im Jahr 1942 in New York (auf deutsch!) herausbringen konnte: »Die hellen Nächte«.
In Deutschland sind diese Gedichte erst 2009 bei Luchterhand erschienen. Der Weidle-Verlag brachte sie mit seiner Ausgabe jedoch zum ersten Mal wieder in der ursprünglich von Sahl festgelegten Ordnung. Außerdem sind dem Band verschiedene Materialien beigefügt, unter anderem ein Text, der auf einem Sahl-Interview nach seiner Rückkehr nach Deutschland basiert:
Wenn Sie mich fragen, wie ich mich heute hier in Deutschland fühle, würde ich sagen: Man braucht mich nicht. Als ich zuvor vom Fehlen einer Wertsetzung sprach, von der atmomisierten Gesellschaft, muss ich jetzt sagen, daß heute der einzelne Autor in Deutschland in einer Art Exil lebt. Aber nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Ländern der Welt sind die Menschen aus einer heilen Welt vertrieben worden. In eine Welt, von der man nicht weiß, wie sie sich entwickeln wird. Ich glaube, daß der alte Kulturbegriff vorüber ist, daß die Notwendigkeit der Kultur, die wir einmal empfanden, vorbei ist. Es geht heute um harte Existenzfragen, um ganze Länder, Völker, Grenzen, Kontinente.
Beide Bücher berichten von der »Notwendigkeit der Kultur«. Wir – und damit meine ich in diesem Moment Autoren wie Noll, Materni oder auch mich – empfanden sie in der DDR. Sahl empfand sie in der Weimarer Republik und nicht weniger stark auf den vielen Stationen seines Exils. Und heute? Ich fürchte, Sahl hatte nicht unrecht mit seiner Einschätzung.
Und vielleicht betrifft mich heute das Gedicht von Theodor Kramer, das Undine Materni als Weihnachtsgruß schickte, deswegen so sehr. Es ist die allerbeste Zeit, um von der Glut zu schreiben.
Wann sich im Herd die Asche wellt
Wann sich im Herd die Asche wellt
Und durch das kalte Gitter fällt
Und sich im Winkel find’t kein Scheit
Ist es die allerbeste Zeit
Um von der Glut zu schreiben
Wann fahl es wird in dem Hotel
Und knarrt das leere Bettgestell
Und seufzt der Flur von Einsamkeit
Ist es die allerbeste Zeit
Um von der Glut zu schreiben
Wann still es wird im fremden Land
Und der Kumpan, wozu er stand
Verriet und gut dabei gedeiht
Ist es die allerbeste Zeit
Um von der Glut zu schreiben
Theodor Kramer (1897-1958)