Wiebke Porombka im »Traumschiff«-Gespräch mit Alban Nikolai Herbst
Wer eine Stadt seiner Sehnsucht erreicht, dem ist sie erlaubt.
••• 52° 29′ 13″ N / 13° 22′ 32″ O: Das ist Kreuzberg, auf der weniger schönen Seite des Viktoriaparks. In Bayern sind noch Ferien, die Kinder bei uns. In den Urlaub fahren konnten wir nicht, aber wir haben für einige Tage einen Ausflug nach Berlin gemacht. Geplant war eigentlich, dass ich die Party zum 20. Geburtstag des Verbrecher-Verlages besuche. Stattdessen fuhren wir gestern zum Wannsee hinaus, um im Literarischen Colloquium die erste öffentliche Lesung aus Alban Nikolai Herbsts neuem Roman »Traumschiff« zu erleben. Das war ein rechter Familienausflug: mein Vater, Einat und ich, die Teenager-Kids und Leo im Tragetuch, eine kleine Karawane.
Ich habe in diesem Jahr nur ein Buch gebraucht. Und wenn Sie nur ein Buch wahrnehmen können zurzeit, dann sollte es dieses sein. Es gibt nur ganz wenige Autoren in Deutschland, die sowohl die Erfahrung als auch das intellektuelle, sprachliche, gestalterische und – musikalische Vermögen mitbringen, um einen solchen Roman schreiben zu können. Dass Herbst gestalterisch kaum etwas unmöglich ist, hat er in an die 30 Büchern längst bewiesen. Im »Traumschiff« zeigt er nun jedoch etwas, das die alternde Kollegenschaft beschämen dürfte: Er hört nicht auf, sich das Maximum abzuverlangen. Er hört nicht auf, besser zu werden. Ein Meisterwerk wie dieses fällt einem nicht zu. Herbst hat sich nie geschont. Und das vielleicht ist das Geheimnis der Virilität in seinem Werk. Offen, wach, verletzlich, wissbegierig und unabgeklärt – das ist der Teil des Handwerkszeugs, den man nicht lernen kann.
Vor Monaten schon habe ich erste Fahnen des Romans lesen dürfen, und von den ersten Sätzen an empfand ich so etwas wie – Resonanz.
Lange habe ich gedacht, dass wir einander erkennen. Aber das stimmt nicht. Wir vestehen uns nur. Dennoch lehne ich stets an der Reling des Promenadendecks, wenn die Reisegäste das Traumschiff verlassen. Und wenn die neuen eingeschifft werden, sehe ich mir jeden Menschen sehr genau an. Wie er seine Füße auf die Gangway setzt, zum Beispiel, ob fest, ob unsicher. Ob er sich am Geländer festhält.
Viele sind krank. Andere können nicht mehr richtig gehen und stützen sich auf rollbare Hilfen.
Ich möchte wissen, ob jemand das Bewusstsein schon mitbringt.
Ich habe es seit Barcelona. Das liegt lange zurück.
Gregor Lanmeister, der Ich-Erzähler dieses Romans, Ende 60 und gebrechlich, fährt auf einem Kreuzfahrtschiff über die Weltmeere. So jedenfalls denkt er es sich und sollen wir Leser es uns denken. Das Bewusstsein, das er »seit Barcelona« zu haben meint, ist ein besonderer Daseins- oder Empfindungszustand, der ihn mit einigen seiner Mitreisenden verbindet. Zwölf Dutzend Menschen auf diesem Schiff werden es nicht mehr verlassen. Ihre Kreuzfahrt ist so etwas wie die Überfahrt über den Styx, die gekreuzten Weltmeere eine Art Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Wir lauschen Lanmeister, der das Sprechen aufgegeben hat und demonstrativ schweigt, ins Innere. Wir begleiten ihn beim Sterben, beim Abschiednehmen, und dass es um nichts anderes geht, das eben ist Lanmeister seit Barcelona nach und nach klar geworden. Nur, wie lange es dauern wird, das weiß er nicht.
Herbst überblendet die Seereise mit einer anderen Realitätsebene. Da befindet sich Lanmeister in einem Altenheim. Da ist seine Kabine ein Zimmer und das ukrainische Zimmermädchen Pflegerin, die nicht nur Staub wischt, sondern ihn, was ihn verwundert und ihm sehr unangenehm ist, auch wäscht.
Was ist angenehmer oder doch zumindest weniger schlimm, wenn man denn schon gehen muss und auf den letzten Metern hilflos im Rollstuhl sitzt? Dann doch lieber die Reling und der Blick über den Ozean als ein Altenheimkorridor. Herbst nennt sein »Traumschiff« denn auch eine Utopie des Sterbens. Wenn das Gehen so aussieht, wäre es erträglich. Wenn auch keineswegs leicht.
Das eingangs erwähnte »Resonanz«-Empfinden war unausweichlich. Herbst kommt mit diesem Roman meiner eigenen Poetologie so nah wie nur möglich. Erzählt wird in zwei sich überlagernden Realitätsräumen in der ersten Person, und der Erzähler, Lanmeister, ist ein Anti-Held. Gezeugt nach Kriegsende bei einer Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten, wird er von seiner Großmutter und seiner Mutter lieblos und brutal aufgezogen. Die Kindheit gibt den Ton vor für das Folgende: Überleben, Durchlavieren, nur kein Gefühl zeigen. Im Geschäftsleben ist er ein Schlitzohr. Zu seinen Frauen ist er widerlich. Seinen Sohn kennt er kaum. Ein soziales Leben beginnt er eigentlich erst auf dem Traumschiff zu führen. Liebe zu empfinden und sich selbst zuzugeben, auch das gelingt ihm erst in seiner Zeit des Abschiednehmens.
Die mystischen Überlieferungen mehrerer Religionen kennen Orte der Läuterung, wie es das Traumschiff für Lanmeister ist. In der jüdischen Überlieferung ist es das Sheol. Bei mir spielte schon im »Alphabet des Rabbi Löw« diese Idee im zentralen Anna-Kapitel die Hauptrolle. In »Replay« lieferte die Idee des Sheol die Exposition für Ed Rosens »Läuterungsreise« von Replay zu Replay. In »Ein anderes Blau« wird zwei der erzählenden Personen erst im Laufe des Buches klar, dass sie sich in einem Reich zwischen Leben und Tod befinden, dass sie nicht in diese Welt zurückkehren können. Nachdem sie Abschied genommen haben, steigen sie in ein Boot und fahren hinaus auf den nächtlichen See.
Mystisches webt auch Herbst wie einen Musterfaden in seine Erzählung ein. Das chinesische Mahjongg wird auch Sperlingsspiel genannt. Monsieur Bayoun, bevor er final »an Land geht«, verehrt Lanmeister ein solches Spiel, das aus zwölf Dutzend Steinen, auch Spatzen genannt, besteht. Herbst verbindet das Spiel mit der talmudischen Legende (die sich ähnlich übrigens auch im Islam findet), dass die Spatzen (oder Tauben) die Bewahrer der Seelen sind und die Aufgabe haben, den Neugeborenen die für sie vorgesehene Seele zu überbringen. (In »Die Leinwand« erzähle ich diese Legende im Zusammenhang mit Maos Krieg gegen die Spatzen im China der Kulturrevolution.) Wie dieses Motiv webt Herbst auch immer wieder Zitate aus dem 144. Psalm in den Text ein – all dies zusätzliche Ebenen für den Text, die man nicht zu erkennen braucht, um das Buch mit Genuss und Gewinn zu lesen, die aber doch einen Teil des besonderen Reizes ausmachen.
Dieses gesamte Setup bleibt natürlich ein uneingelöstes Versprechen, wenn es dem Autor nicht gelingt, den richtigen Ton zu treffen. Ich habe mich hier mehrfach als Fan Herbstscher Experimente bekannt, sei es bei »Aeolia« oder auch den »Bamberger Elegien«. In der Prosa fühle ich mich häufig mit Herbst nicht eben »gleichgestimmt«. Eine klare Ausnahme war »Meere«. Und ebenso klar schwinge ich mit Herbst bei diesem Roman. Man sollte den Text laut lesen, und am besten sollte man den Text vom Autor laut gelesen bekommen, denn seine Musikalität sucht ihresgleichen. Und so ist letztlich der Klang ein weiterer Grund für mein Resonanzerlebnis bei der Lektüre.
Mir kommt es auf Erklärung allerdings nicht weiter an. Es wäre im Beisein der Freunde leicht gewesen, unter der Sonne zu sterben, mit ihrem warmen Licht auf den Augen. Man schließt sie vor Helligkeit sowieso. Dabei stört es auch nicht, daß der Besuch meine Hand hält. Es ist sogar sehr angenehm. Man ist locker daran festgemacht wie ein Boot auf einem so stillen See, daß man ihn für verwunschen hält. Am Ufer, mit einer Schnur. Da muß keiner fürchten davonzutreiben, oder nur kaum. Bei geschlossenen Lidern habe ich außerdem den Eindruck, daß es eine Männerhand ist, die mich hält. Eine, möchte ich fast sagen, Vaterhand. Es gibt Illusionen, um die ist es schade, wenn man sie stört.
Ende Oktober werde ich mit ANH gemeinsam im Literaturhaus in Darmstadt auftreten. Ich werde »Ein anderes Blau« mitbringen und er das »Traumschiff«. Auf dieses Gespräch freue ich mich bereits unbändig.
Übrigens bin ich gerade hier: 50° 55′ 30″ N / 11° 35′ 15″ O. Das ist Jena Paradies. »Es gibt Illusionen, um die ist es schade, wenn man sie stört.«
Am 14. Oktober 2015 um 20:56 Uhr
Aaliyah hat sich dieses Buch gewünscht. Sie fand die Lesung wohl sehr beeindruckend.