Editorische Notiz

14. November 2013

••• Es geschieht nicht oft, dass ein Buch ein zweites Leben geschenkt bekommt. Einmal in der Welt, ist es für gewöhnlich dazu verurteilt, zu bleiben, wie es geboren wurde. Keine Entwicklung, kein Reifen. Da haben Autoren es besser. »Das Alphabet des Juda Liva« war mein Debüt-Roman. Als ich begann, ihn zu schreiben, war ich 21 und hätte mit Vehemenz behauptet, dass ich nie auch nur ein Wort an diesem Text würde ändern wollen. Wie man sich irren kann!

Die Originalausgabe ist 1995 im Ammann-Verlag, Zürich, erschienen und seit vielen Jahren vergriffen, ebenso die Taschenbuchausgabe, die 1998 bei dtv erschien. Als ich meinem Verleger vorschlug, eine Neuausgabe zu machen, hatte ich eigentlich nur im Sinn, dass der Text zugänglich bleiben soll. Dann aber begann eine Auseinandersetzung mit dem Roman, wie ich sie nicht erwartet hatte.

Als ich das Buch nach so vielen Jahren noch einmal gelesen hatte, wusste ich, dass ich den Text in der vorliegenden Form nicht erneut publiziert sehen wollte. »Es gibt kein wirkliches Gelingen«, heißt es im Kapitel 16: »Nur verschiedene Grade des Scheiterns.« Ich erinnerte mich sehr gut daran, was ich hatte schaffen wollen, und mit dem zeitlichen Abstand fühlte ich mich gescheitert. Ich meine gar nicht die echten Fehler, von denen es einige gab, zu viele! Geschichte und Konstruktion begeisterten mich wieder wie damals, aber was die Sprache betrifft, hätte ich den Autor von damals am liebsten an den Ohren gepackt: Was hast du dir nur dabei gedacht?!

Ich würde den Text überarbeiten müssen. So viel war klar. Aber »redlich«. Ich wollte nichts umstellen, nichts hinzufügen, aber unbedingt kürzen!

Ich arbeite elektronisch, allerdings nur bis zur Abgabe des Typoskripts an den Verlag. Korrekturen mache ich dann lieber auf Papier, in den Fahnen. So war es damals auch beim »Alphabet«. Eine elektronische Version des veröffentlichten Textes ließ sich nicht mehr auftreiben. Zur Verfügung standen lediglich die elektronische Fassung meines Originals, ein Ausdruck dieser Fassung mit sparsamen Korrekturen und natürlich das gedruckte Buch. Ich beschloss, die Bearbeitung auf Basis des Originalmanuskripts zu versuchen. Im Mai 2012 entstand eine erste Neufassung. Die gab ich meiner Lektorin, und als wir einige Monate später ihre Anmerkungen durchgingen, wurde mir klar, dass sie und zuvor natürlich ich selbst noch viel zu zaghaft gewesen waren. Ich würde noch einmal Satz für Satz durch den Text gehen müssen und zwar schonungslos.

Ich arbeite selbst gern als Lektor mit Autoren, seit ich in meiner Zeit als angestellter Journalist Tag für Tag mit dem Redigieren der Texte von anderen beschäftigt war. Ich wollte versuchen, nun meinen eigenen Text so zu behandeln, als wäre ich lediglich Lektor. Als solcher habe ich meine Autoren nie geschont. Sie hatten, im Gegenteil, einiges auszustehen. Das musste ich mir auch selbst zumuten können.

Eine Zumutung bedeutete das Vorhaben aber zunächst für die Frau, mit der ich, während der Roman 1991/92 entstand, zusammenlebte. Sie ist noch heute eine enge Freundin und erklärte sich bereit, eine Fassung zu erstellen, in der die Korrekturen des Ammann-Lektorats und meine Überarbeitungen aus der ersten Neufassung farblich gekennzeichnet waren. Hinzu kamen wertvolle Anmerkungen. Ihr Gedächtnis funktioniert besser und anders als meines, und sie erinnerte sich im Gegensatz zu mir noch an diverse Debatten auch inhaltlicher Natur. Es muss eine aufreibende Fleiß- und Erinnerungsarbeit gewesen sein, für die ich umso dankbarer bin, da die Auseinandersetzung mit dem Text durchaus auch eine persönliche war.

Egon Ammanns Lektoratshinweise waren, wie ich nun sehen konnte, ausgezeichnet. Wahrscheinlich wäre er damals schon gern weiter gegangen, als wir es taten. Aber ich gehe davon aus, dass es kein Spaß gewesen ist, mit mir zu diskutieren. Jetzt immerhin durfte ich dem Autor von damals seine Marotten austreiben, seine »Kunststückchen« eliminieren und kürzen, dass es ihn in seinem damaligen Selbstverständnis um den Verstand gebracht hätte.

Die Bearbeitung ist redlich geblieben. Neben den Kürzungen und Korrekturen wurden Rechtschreibung und Zeichensetzung so angepasst, wie ich es auch in meinen anderen Romanen handhabe. Gewissen Scheußlichkeiten der neuen Rechtschreibung werde ich mich auch weiter verweigern, und für die Zeichensetzung in der wörtlichen Rede habe ich gute Gründe.

Der Text dieser Neuausgabe ist also nicht nur gründlich und kritisch durchgesehen. Es ist eine Neufassung, die sich deutlich von der Originalausgabe unterscheidet. Sollte sie nicht also auch aus eigenem Recht einen neuen Titel erhalten? Der Maharal, der Hohe Rabbi Löw von Prag, hieß Jehuda ben Bezalel Löw. Niemand außer dem Autor dieses Romans hat ihn je als Juda Liva erwähnt. Fragen sie mich nicht, warum ich einmal meinte, ihn so nennen zu müssen. Ich weiß es nicht mehr! Und so lautet der Titel nun »Das Alphabet des Rabbi Löw«. Denn ein Löwe war er, der Maharal, ein König unter den Mystikern. Sein Werk und die Legenden um ihn begeistern mich heute noch unvermindert, und gern würde ich ihm oder einer Reinkarnation von ihm begegnen.

Ich weiß, ich sollte vorsichtiger sein mit meinen Wünschen…

»Das Alphabet des Rabbi Löw« wird in einer schönen Druckausgabe in Leinen Anfang nächsten Jahres im Verbrecher-Verlag erscheinen.

3 Reaktionen zu “Editorische Notiz”

  1. litblogs lesezeichen | isla volante

    […] Editorische Notiz von Benjamin Stein in Turmsegler […]

  2. in|ad|ae|qu|at : Litblogs.net – Lesezeichen 4 | 2013

    […] Editorische Notiz von Benjamin Stein in Turmsegler […]

  3. Transparenz statt Transzendenz – intellectures

    […] des Rabbi Löw (1995 erstmals unter dem Titel Das Alphabet des Juda Liva erschienen, jetzt in überarbeiteter Neuauflage erhältlich) und Die Leinwand immer wieder kunstvoll mit Fragen nach Wahrheit oder […]

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