Buch, gib mich frei

16. April 2013

Buch, so ich dich schließe,
schlag ich das Leben auf.
Ich höre
aus den Türen
abgerissene Rufe.

••• Vor einigen Tagen durfte der Turmsegler mal einem wahren Leseransturm standhalten. Das Interesse des Publikums galt einem »alten« Post über Brechts »Sonett Nr. 19«. Das Gedicht spielte eine Rolle in einer Aufgabe der schriftlichen Abi-Prüfung Deutsch, die letzte Woche anstand. Da musste ich an meinen eigenen Abitur-Aufsatz denken. Ich schrieb damals über Nerudas »Ode an das Brot« (behauptet meine Erinnerung, also wollen wir es mal glauben). Nerudas Oden hatten es mir damals sehr angetan, besonders in der Übersetzung von Erich Arendt, an dessen Gedichten ich mich zur selben (Un-)zeit ebenfalls abarbeitete.

Ich ging also zum Bücherregal, um mir Nerudas »Elementare Oden« zu greifen und darin zu stöbern. Aber ich fand es nicht. Mir fiel auch wieder ein, warum ich es nicht finden konnte, denn ich hatte das Exemplar, in dem ich damals gelesen hatte, noch vor Augen. Es war eines jener in orangefarbene Wachstuchumschläge geklebten Bibliotheksexemplare der Bibliothek in Friedrichshagen, von der Wechsler in der »Leinwand« berichtet.

Keine Neurda-Oden im Haus! Also bin ich online suchen gegangen und dabei auf eine Perle dieser Sammlung gestoßen, die Doppel-»Ode an das Buch«. Ich will es einmal eine Doppel-Ode nennen, denn es gibt zwei »Oden an das Buch«.

Die »Ode an das Buch (II)« überrascht nicht wirklich. Der Dichter preist das Buch:

Buch,
herrliches
Buch,
du winziger Wald,
Blatt
an Blatt,
nach Urstoff
dufet
dein Papier,
morgendlich bist du
und nächtlich …

Einen ganz anderen und wirklich überraschenden Ton schlägt hingegen die »Ode an das Buch (I)« an: »Buch, so ich dich schließe, / schlag ich das Leben auf. // […] // Buch, gib mich frei. / […] / Kehre du in deine Bibliothek zurück, / ich aber gehe durch die Straßen.«

Glücklicherweise konnte ich online ein gebrauchtes Exemplar der Volk-und-Welt-Ausgabe von Nerudas »Elementaren Oden« in der Übertragung von Erich Arendt finden, und gestern schon hatte ich es im Briefkasten. Ein bekanntes Zitat Arendts scheint Nerudas Ode zu kommentieren: »Dichtung verlangt Mitleben. Sie ist kein leichtfertiges, leicht fertiges Spiel zu großem Zeitvertreib.«

Schade, dachte ich: Es wäre noch aufregender gewesen, wenn Neruda die Reihenfolge der Oden umgekehrt hätte. Aber lest selbst.

Ode an das Buch (I)

Buch, so ich dich schließe,
schlag ich das Leben auf.
Ich höre
aus den Türen
abgerissene Rufe.
Kupferbarren
die Sandwüsten queren
nach Tocopilla hinab.
Nacht ist’s.
Zwischen den Inseln
wogt mit seinen Fischen
unser Weltmeer.
Die Füße berührt es, die Schenkel,
die Rippen aus Kalk
meines Heimatlandes.
An seinen Ufern hängt die ganze gewaltige Nacht,
und mit des Tages Licht
schimmert es singend auf,
als erwachte eine Gitarre.
Mich ruft der Schlag
des Ozeans. Mich
ruft der Wind,
und Rodriguez ruft mich,
José Antonio,
von der Gewerkschaft »Mina«
erhielt ich ein Telegramm,
und sie, die ich liebe
(ich werde euch ihren Namen nicht sagen),
wartet auf mich in Bucalemu.

Buch, mich einzuwickeln,
hast du nicht vermocht,
du erfülltest mich nicht
mit Typographie,
mit himmlischen Impressionen,
du vermochtest meine Augen
nicht zu verbinden,
fort geh ich von dir, die Waldungen zu beleben
mit der lauten Familie meines Gesangs,
glühende Metalle zu treiben
oder in den Bergen am offenen Feuer
gebratenes Fleisch zu essen.
Ich liebe die Bücher
über Entdeckungen,
Bücher voll Wald und Schnee,
Abgrundtiefe und Himmel,
aber ich hasse
das Buch der Spinne,
in dem der giftige Gedanke
Drähte spannte,
dass sich die jugendliche
eingekreiste Fliege darin fängt.
Buch, gib mich frei.
Ich mag nicht als Buch
gewandet einhergehen,
ich ging nicht aus einem Gedichtband hervor,
meine Gedichte
haben keine Gedichte verzehrt,
sie verschlingen
leidenschaftliches Geschehen,
nähren von Wetterstürzen sich,
nehmen aus Erde und Mensch
die Nahrung.
Buch, lass mich die Wege wandern
mit Staub auf den Schuhen
und ohne Mythologie:
Kehre du in deine Bibliothek zurück,
ich aber geh durch die Straßen.

Ich habe das Leben kennengelernt
durch das Leben,
die Liebe lernte ich mit einem einzigen Kuss,
ich kann niemand etwas lehren,
was ich nicht erlebt,
so viel ich mit anderen Menschen gemeinsam hatte,
so viel ich kämpfte mit ihnen:
so viel Ausdruck von alldem verlieh ich meinem Gesang.

Pablo Neruda (1904-1973)
aus: »Elementare Oden«
Nachdichtung: Erich Arendt


Tom O’Bedlam liest die »Ode to a Book (I)«
in der englischen Übertragung von Nathaniel Tarn (Quelle: brainpickings)

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