Szimpla Kertmozi, Kazinczy utcá, Budapest
••• Es fällt mir zunehmend schwer, von den Reisestationen zu berichten. Im Moment muss ich mich dazu zwingen, um mir auf diesem Wege zu merken, wo ich wann gewesen bin, mit wem und warum. Andernfalls würden die Eindrücke, so schön und interessant sie auch waren, wie durch mich hindurch rauschen. Ich habe das Gefühl, das alles gar nicht mehr verarbeiten zu können. Nichts kann sich wirklich setzen, schon geht es weiter zu einer anderen Verpflichtung. Ich möchte die Bremse ziehen, und entsprechend liege ich, sobald ich zu Hause bin, auf dem Sofa, kann mich kaum sammeln, konzentriert denken, arbeiten. Mit diesem Zustand mag ich mich nicht anfreunden. Ich muss mir etwas ausdenken, um wieder mehr Ausgleich zu schaffen, einen Weg zwischen den Extremen zu finden.
Szimpla Kertmozi, Kazinczy utcá, Budapest
Die letzten Tage habe ich in Budapest verbracht. Eingeladen hatten das Goethe-Institut, das Institut Française und das Petöfi-Literaturmuseum in Budapest zu einer zweitägigen Konferenz zum Thema »Shoah in der Literatur«. Die Konferenz sollte die Gespräche des Vorjahres zum Thema »Shoah in der Bildenden Kunst« fortsetzen. Geladen waren Autorinnen und Autoren aus Ungarn, Frankreich und Deutschland, die sich in vier Podiumsrunden in unterschiedlicher Zusammensetzung zu je eineinhalb Stunden mit bestimmten Aspekten des Themas beschäftigen sollten. Es war eine sehr illustre Künstler-Runde aus mindestens drei Generationen: Zeitzeugen, Nachgeborene der 2. und der 3. Generation, noch dazu mit oder auch ohne direkte familiäre Beziehung zur Shoah.
Synagoge Dohány utcá, Budapest
Aus Ungarn nahmen Péter György, Zsófia Balla, Ágnes Gergely und Iván Sándor teil. Aus Frankreich waren Laurence Sigal, Cécile Wajsbrot, Gila Lustiger und Yannick Haenel angereist, aus Deutschland Astrid Rosenfeld und eben ich. Moderiert wurden die Podiumsrunden abwechselnd von Norbert Engel (Frankreich) und Sigrid Löffler (Deutschland). Im Vorfeld hatte ich mir Sorgen gemacht: Wären meine Ansichten zum Thema »opportun«? Nicht, dass ich mich gescheut hätte, nicht-opportune Ansichten zu äußern, aber die Vorstellung in einem ideologisch und von political correctness so belegten Umfeld frei und noch dazu laut und umgehend in drei Sprachen übersetzt nachzudenken – das schien mir keine leichte Sache. Aber es kam anders.
Synagoge Dohány utcá, Budapest
Die Debatte wurde sehr auf dem künstlerischen Feld geführt, und die Schlussfolgerungen lassen sich so zusammenfassen: Es geht heute nicht mehr um historisches Zeugnis, sondern um künstlerische Gestaltung eines Themenkomplexes, der für Betroffene (gleich welcher Generation) wie Nichtbetroffene (gleich welcher Nation) frei geworden ist. Bei der Beurteilung der Werke sind allein künstlerische Maßstäbe anzusetzen. Der historisch fundierten Fiktion wird gegenüber dem rein Dokumentarischen die Zukunft gehören. Besonders interessant dabei ist, dass weder in Frankreich noch in Ungarn wie in Deutschland von einer umfassenden Geschichtsaufarbeitung und von ausreichender historischer Faktenkenntnis in der jüngeren Generation ausgegangen werden kann. Das Thema ist frei. Es wird künftig fiktionale Werke in allen Genres und vom Abenteuerroman bis zur Filmkomödie geben, künstlerisch anspruchsvoll oder auch kommerzialisiert in Entertainment-Verpackung. Zum Teil gibt es sie bereits, und man muss davon ausgehen, dass es diese Werke sein werden, aus denen Jüngere ihre Kenntnisse zur Shoah vor allem wenn nicht gar einzig beziehen. Das wurde nüchtern festgestellt und von keiner der anwesenden Generationen irgendwie beklagt.
Das kleinste Kaffeehaus Europas, wenn nicht sogar von ganz Ungarn.
Innenhof des Petöfi Literaturmuseums, Budapest
Als schreibende Künstler bewegte die Diskutierenden, wie es gelingen kann, Werke jenseits von Betroffenheits- und Grauenskitsch zu schaffen. Besonders spannend fand ich die Äußerungen zur Sprache. Ich erwähnte Klemperers »LTI« und wie diese Lektüre mich schon sehr früh sensibilisiert hat. Gila Lustiger bestätigte dies, und es war sehr interessant, von den ungarischen und französischen Kollegen zu hören, dass sie in ihrem Sprachraum ganz andere Schwierigkeiten mit der Sprache beobachten und dass im Bereich der Sprache ebenso wenig eine ausreichende Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Einflüssen stattgefunden hat wie auf der allgemeinen gesellschaftlichen Ebene. Man muss sich das einmal vorstellen: Wir sind eine Nation ohne Gedächtnis. Das von einem französischen Autor und von einem ungarischen Autor mit Bedauern für Ungarn bestätigt. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Arbeitsplatz eines Konferenzdolmetschers im Petöfi Literaturmuseum
Am zweiten Tag wurden wir von einer sehr sympathischen Führerin durch den 7. Bezirk geführt, das ehemalige neue jüdische Viertel, auf dessen Boden sich 1944 auch das Budapester Getto befand. Für mich war diese Tour besonders speziell, denn ich bekam all jene Orte zu sehen, die ich vor 23 Jahren (!) abgelaufen war, als ich für »Das Alphabet des Juda Liva« recherchierte. Die Straßen sind kaum wiederzukennen. Vieles wurde erst in den letzten Jahren restauriert. Aber alles war noch da: Der Laden, in dem Rottenstein (oder war es sein Alter Ego?) seine ersten Tefillin kaufte, das Lokal, in dem ich den ersten Tscholent meines Lebens gegessen habe, natürlich die große Synagoge in der Dohány utcá, in deren Wochentagsbetstube die wenigen Orthodoxen damals nur zu Gast waren. Und und und. Ich bin sehr froh, dass ich gerade jetzt noch einmal an diese Orte gekommen bin, da die Neuausgabe des »Alphabet« ansteht.
Panoramaansicht des Innenhofs des Petöfi Literaturmuseums, Budapest
Ich habe mich auch sehr gefreut, dass ich Maria Makai Toth kennenlernen konnte, die Übersetzerin, die »Die Leinwand« ins Ungarische übertragen wird. Von ihr wie auch von den ungarischen Kollegen war vieles über die derzeitigen politischen Verhältnisse in Ungarn zu erfahren. Unter den Intellektuellen – zumal den Künstlern – hat sich eine Art Depression breitgemacht. Man kann sich das hierzulande nicht vorstellen: Die neuen Nazis sind eine alltägliche Normalität. Im ungarischen Parlament werden Ritualmord-Anfragen allen Ernstes diskutiert, und wenn auch konstatiert wird, dass der Ministerpräsident psychopathologische Verhaltensweisen zu zeigen beginnt und man nur noch darauf wartet, dass er sich zum König krönen lässt, bleibt doch festzustellen, dass sich die derzeitige Regierung auf eine Dreiviertelmehrheit stützen kann. Die Verfassungsänderungen und alle anderen heute beschlossenen gesellschaftlichen Veränderungen, werden wohl zumindest die kommenden 20 Jahre in Ungarn bestimmen. Wie in jeder Diktatur geht es der Intelligenzija und der Kunst zuerst an den Kragen. Es ist aussichtslos. So hört man unisono. Dass Imre Kertész seinen Nachlass nicht etwa dem ungarischen Staat sondern der Berliner Akademie anvertraut hat, ist vor diesem Hintergrund mehr als verständlich.