Atomwaffen im Wohnzimmer

3. August 2012

••• In der aktuellen Ausgabe der »Jüdischen Allgemeinen« ist eine Kolumne von mir zum Thema Cyberwaffen erschienen. Geschrieben wurde der Text bereits vor einigen Wochen und war als fast doppelt so langer Leitartikel ausgelegt. Damit die vollständige Version nicht verlorengeht, merke ich sie mir an dieser Stelle mal öffentlich.

Atomwaffen im Wohnzimmer

Während des ersten Irak-Kriegs waren im Fernsehen bunkerbrechende Raketen in Aktion zu sehen. Sie drillten sich in die Erde und verrichteten ihr tödliches Werk unmittelbar und ausschließlich in der Kommandozentrale des Feindes. Das machte Eindruck. Für die als »gezielte Tötungen« bezeichneten Mossad-Operationen gegen Terroristen fanden sich mehr Sympathisanten als für die Feldzüge im Libanon oder im Gaza-Streifen. Und als im letzten Jahr der Computervirus Stuxnet die Zentrifugen zerstörte, mit denen der Iran das Uran für sein Atomprogramm anreicherte, schwang in vielen Kommentaren sogar Bewunderung mit: War dies nicht eine Variante der Kriegsführung, mit der man sich geradezu wohlfühlen konnte? Der Schein, meine ich, trügt. Es lohnt, unsere Weisen zu Rate zu ziehen, um die Frage zu beantworten, was von alldem – Cyberwaffen inklusive – tatsächlich zu halten ist.

In Sanhedrin 4:5 heißt es: »Wenn einer ein Menschenleben zerstört, so ist es, als hätte er die ganze Welt zerstört.« In den Debatten der Rabbiner von talmudischen Zeiten bis heute ergeben sich aus diesem Verständnis enorm restriktive Ansichten zum Thema Krieg und Kriegsführung. Rav Aryeh Cohen, der als Professor an der Amercian Yewish University in Los Angeles lehrt, nannte 2008 einen Essay zum Thema gar unmissverständlich »War is assur« (Krieg ist verboten). Als einzige Ausnahme gilt heute die Selbstverteidigung im Falle eines zweifelsfreien, bewussten Angriffs. Doch selbst in diesem Fall schreibt die Torah enorme Umsicht und Zurückhaltung vor. So heißt es in 5. M. 20:19-20: »Nur einen Baum, von dem du weißt, dass er kein Fruchtbaum ist, den darfst du zerstören und umhauen, um gegen die Stadt, die mit dir Krieg führt, Belagerungswerke zu bauen.« Der Talmud folgert daraus, dass im Krieg so genannte Kollateralschäden unbedingt zu vermeiden sind und nichts zerstört werden darf, was nach Friedensschluss für den Fortbestand des Zivillebens vonnöten ist.

Dieser Argumentationslinie nach wäre ein atomarer Angriff mit seinen verheerenden Folgen undenkbar. Atomwaffen zu besitzen, ließe sich heute allenfalls damit rechtfertigen, dass deren eigentlicher Zweck in der Abschreckung besteht, man selbst könne und würde im Falle eines atomaren Angriffs eben doch alle Moralität fahren lassen und Vernichtung mit Vernichtung ahnden. Es herrscht jedoch Konsens darüber, dass der für einen Erstschlag zu zahlende Preis zu hoch wäre. Bei Stuxnet, Duqu und Flame, den jüngsten prominenten Cyberwaffen, ist das anders. Dabei haben sie mehr mit Atomwaffen gemein, als wir wahrhaben wollen, und vor ihrem Einsatz wird, wie wir wissen, keineswegs zurückgeschreckt.

Wie die Bilder aus dem ersten Irak-Krieg und die Informationen über die Mossad-Operationen will uns auch der Bericht von den zielgerichtet lahmgelegten Uran-Zentrifugen suggerieren, neuste Technologien und Strategien würden so etwas wie einen »sauberen Krieg« ermöglichen, chirurgisch präzise Kampfoperationen, die nur jenen schaden, die für die kriegerische Auseinandersetzung verantwortlich und deren Schädigung – ja selbst Tötung – also »legitimiert« sei. Das aber ist Propaganda, wenn auch von jener Sorte, die wir nach wie vor gern glauben. Dabei wissen wir unterdessen, dass in beiden Irak-Kriegen die Kollateralschäden enorm waren und auch bei den erwähnten Geheimdienstoperationen keineswegs nur als schuldig Ausgemachte zu Schaden und umgekommen sind.

Wir sollten aufhören zu träumen. Von unseren Weisen lässt sich auch lernen, dass wir nicht nur für unsere direkten Taten Verantwortung tragen, sondern auch für den Schaden, der mit einer Waffe verursacht wird, die wir gebaut und in falsche Hände haben fallen lassen. Cyberwaffen sind Waffen. Sie erreichen ihr Ziel schneller als jede Atomrakete. Anders als diese sind sie jedoch nicht zu bewachen. Sehr leicht können sie in die Hände von Einzelpersonen und Gruppen fallen, die sie mit vergleichsweise geringem Aufwand modifizieren können, um sie für einen Privatkrieg einzusetzen. Computer steuern heute einen gewaltigen Anteil der Infrastruktur des Zivillebens, unsere Verkehrs- und Informationssysteme ebenso wie Atomkraftwerke. Und jeder einzelne von uns, der einen mit dem Internet verbundenen Computer besitzt, kann zum Angegriffenen oder zum unbewussten Mittäter an einer Attacke werden. Die Raketenrampen stehen gewissermaßen in unseren Wohnzimmern.

Die einzig verantwortungsbewusste Schlussfolgerung kann meines Erachtens nur sein, Cyberwaffen – und zwar vom Bundestrojaner bis zu Stuxnet, Duqu, Flame und Konsorten – umgehend ebenso zu ächten wie Massenvernichtungswaffen und alle Kräfte auf die Entwicklung von Abwehrmechanismen und die Schließung von Sicherheitslücken zu vereinen, dank derer sich die Cyberschädlinge in angegriffenen Systemen einnisten können. Dies nicht zu tun und stattdessen weiter den Traum vom sauberen, kollateralschadenfreien Krieg zu träumen, bedeutet ein Spiel mit dem Feuer, das sich schon sehr bald als uneindämmbar herausstellen könnte.

Eine Reaktion zu “Atomwaffen im Wohnzimmer”

  1. Ingrid

    … und das ist schön so. Ich weiß eine übergeordnete Sicht der Dinge sehr zu schätzen und in diesem Zusammenhang finde ich sie auch dringend erforderlich. Eine Sicht von höherer Warte mit größerem Weitblick. Mit höherer Einsicht und weniger Einschränkung von Raum und Zeit. Und da ist es eben auch notwendig, den Weg vorzubereiten und seine Leser auf die Argumente hinzuführen.

    Denn es gibt keinen sauberen Krieg und kein Handeln ohne Folgen. Das war doch schon an den angeblich chirurgisch sauberen Eingriffen der Amerikaner im Irak zu lernen. Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, mag er sein Ziel genau treffen, doch macht er auch Wellen, die bis ans Ufer gelangen.

    Die Besonnenheit, die Not tut, braucht Besinnung, die angemessenen Zeit- und Textraum verdient.

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