Papa, was liest du denn da?

19. Mai 2012

••• Das sind eigenwillige Zeiten. Ich habe eine Wohnung gemietet. In wenigen Tagen werde ich aus der Ehe-Wohnung ausziehen. Die frühere Herzdame hat sich mit einer Freundin für ein paar Tage nach Paris geflüchtet, um emotional Luft zu holen. Ich verbringe ein entspanntes Wochenende mit den Kindern bei meiner Schwiegermutter, sitze im Liegestuhl in der Sonne und – lese. Morgen will ich mit den Kindern und meiner Freundin ins Schwimmbad gehen. Alle bemühen sich, die Ruhe zu bewahren und sich zu verhalten, als wäre alles »normal«. Nirgends ist der Irrealis angebrachter als in diesem Satz.

Wer sich jemals in einer vergleichbaren Situation befunden hat, wird wissen, in welch kurzen Intervallen sich da sehr widersprüchliche Gefühle Bahn brechen können: Trauer, Euphorie, Wut, Neugier, Angst, Scham, das Empfinden, vollständig gescheitert zu sein … Ich kann gar nicht alle benennen.

Die Kinder fragen mich: Papa, was liest du denn da? Ein Buch über Sex. Sie grinsen und rufen unisono den Namen meiner Freundin, als wüssten sie genau, dass in neuen Beziehungen allerhand gänzlich unklar sein mag, aber eines doch immerhin nicht. Ich korrigiere mich und sage: Eigentlich ist es vor allem ein Buch über Beziehungen und darüber, was alles schiefgehen kann, was meistens schiefgeht und warum. Und was hat das mit Sex zu tun? Am liebsten hätte ich geantwortet: Alles zwischen Menschen hat auf irgendeine Weise etwas mit Sex zu tun.

Das Buch, von dem hier die Rede ist, stammt von Alain de Botton, einem Schweizer, grad so alt wie ich selbst, der unterdessen in London lebt. Es trägt den Titel »How to Think More about Sex« und ist als Paperback und Kindle-eBook erhältlich, leider, wie es scheint, nur in Englisch. Dieses Buch ist kein Ratgeber. De Botton denkt über Sex und dessen Bedeutung für unsere Beziehungen und die menschliche Zivilisation nach. Empfohlen wurde es mir von meinem lieben Freund Jens-Christian. Er hat sich geweigert, mir vorab zu berichten, worum es de Botton geht, wie und worüber genau und aus welcher Warte heraus er schreibt. Das war genau die richtige Art, um sicherzustellen, dass ich es auch lese. Ich werde es ebenso halten, nichts weiter verraten und nichts zitieren.

Nur eines will ich zur Bekräftigung meiner dringenden Leseempfehlung noch sagen: Obwohl de Botton keinen einzigen Ratschlag zu geben hat, habe ich kaum ein Buch je als so tröstlich – und damit hilfreich – empfunden wie dieses.

4 Reaktionen zu “Papa, was liest du denn da?”

  1. Jens-Christian Fischer

    Freut mich, dass es geglückt ist – mir hat De Botton auch eine ganze Reihe von Augen geöffnet. Eine deutsche Übersetzung ist für Oktober angekündigt.

  2. Dorit

    Na, da warte ich mal die deutsche Fassung ab. (Englisch ist mir zu anstrengend + eilt ja auch nicht…) :-)

    Der hat ja noch mehr interessante Bücher geschrieben, wie ich gerade sehe (Der Trost der Philosphie z.B. und die Kunst mit sich allein zu sein etc.).

    Jedenfalls, was ich so gelesen habe, ausschnittsweise, klingt gut. – Z.B. weise(er) mit Sex umzugehen bzw. mit dem Thema, das ist doch mal ein Ansatz, wie ich finde…

    Danke für den Tip, Herr Fischer…

  3. L. F.

    An dieser Stelle ein kurzer Gruß von einer alten Freundin. Denke an Dich und unsere gemeinsame Zeit im Zirkel bei U. Grasnick in Mahlsdorf. Sei von Herzen gegrüßt. Ich denke an Dich und wünsche Dir baldige Besserung! Liane (falls Du Dich noch an mich erinnern kannst?)

  4. Benjamin Stein

    Aber sicher kann ich …

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