Höhle der Löwen

26. Oktober 2011

••• Morgen geht es in die »Höhle der Löwen«, den großen Konferenzsaal im Hause Beck, wo seit heute die Vertreter tagen. Schon einmal hatte ich das Vergnügen und war damals wie heute nervös. Und warum das, wenn es letztendlich doch ein Vergnügen war?

Es hängt so viel ab von den Vertretern, von ihrer eigenen Begeisterung für ein Buch, die sie schließlich zu den Buchhändlern transportieren müssen. Damals wusste ich nicht, wie so eine Buchvorstellung auf einer Vertreterkonferenz abläuft, und Premieren sind immer eine spezielle Angelegenheit. Ich habe mir das rote Wams Heinrichs mit den goldenen Löwen übergezogen und die Damen und Herren eingeschworen. Morgen werde ich mich als erstes bei ihnen bedanken können, denn dass sich »Die Leinwand« so gut verkauft hat, lag zu einem großen Teil an ihnen.

Aber nun, mit einem neuen Buch, stehen wieder alle Zeichen auf Anfang. Auf der Vertreterkonferenz werden alle Titel des Programms debattiert, Inhalt und Verpackung, Klappentexte und Vorschautexte, und der Autor, der seinen Titel vorstellen darf, wird mit Fragen überhäuft, die ans Eingemachte gehen. Ich fürchte, es wird viele Fragen geben, wenn man sich morgen in gleicher Runde wie vor zwei Jahren erneut trifft.

Mein »Geheimdienst« hat mir Mut gemacht. Einige Vertreter treffen sich jeweils schon auf der Frankfurter Messe mit den Verlagsleuten und halten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. »Replay«, durfte ich hören, ist angekommen, aber es gibt auch Unsicherheiten, über die man wird reden müssen.

Ich halte es ja für ein Glück, dass dieser Roman ganz anders geworden ist als »Die Leinwand«. Ein Verkäufer aber – und das sind Vertreter wie Buchhändler – schätzt Anknüpfungspunkte mehr als das »ganz andere«. Da muss man erklären, wie es kommt, dass der von der Presse vor allem als Orthodoxer herausgestellte Autor der »Leinwand« nun mit einer technologischen Dystopie herauskommt, einem Buch, in dem es um Wahrnehmung und sehr auch um Körperlichkeit geht, einem Buch, das den Leser ins Silicon Valley der nicht zu fernen Zukunft führt, aber auch in einen Thai-Massage-Salon, auf hedonistische Swinger-Feste und in die arkadischen Gefilde sinnlicher Erinnerungen, die auf Knopfdruck reproduzierbar sind…

Mich hat gar nicht gekümmert, ob es Anknüpfungspunkte an »Die Leinwand« gibt. Dass gerade ich einen dystopischen Roman über eine totaltransparente Kommunikationsgesellschaft geschrieben habe, hat sicher damit zu tun, dass ich die letzten neun Jahre für Telekommunikationsunternehmen tätig war und weiß, wie nah wir schon heute Rosens Erzählungen sind. Die Journalisten werden nun vielleicht ein neues Schublädchen finden müssen, in das der orthodoxe Autor passt, der eben auch IT-Berater ist. Das kümmert mich aber wenig. Denn ich habe noch nie etwas von solchen Katalogisierungsversuchen gehalten. Ich kann da nur Truman Capote zitieren:

Ich begreife gar nicht, warum alle so verstört sind. Was dachten sie wohl, wen sie bei sich hätten — einen Hofnarren? Sie hatten einen Schriftsteller vor sich!

Tatsächlich aber, wenn ich mir »Replay« heute ansehe, sehe ich sehr deutliche Verbindungen zur »Leinwand«. Zwei Szenen aus der »Leinwand« muss man sich vergegenwärtigen. Die erste: Nathan Bollag debattiert mit Amnon Zichroni über dessen Lektüre von Bulgakows »Meister und Margarita« und warnt ihn vor den »Yevonnim« (den Griechen), in deren weltanschaulicher Tradition er eine Gefahr für seinen Ziehsohn Amnon sieht, gewissermaßen einen Gegenentwurf zur Weltsicht des jüdischen Milieus, in dem die beiden leben. Und die zweite Szene: Im Wechsler-Showdown der »Leinwand« hofft Wechsler, sich durch einen Sprung in die Mikweh von Moza erneut in ein neues Leben retten zu können, wie er es zuvor schon einmal getan hat. Das Becken aber, in das er springt, ist leer.

»Replay« beginnt wie der Zichroni-Strang der »Leinwand« mit der Erzählung einer Jugend, mit der Erzählung eben jenes Erlebnisses, das Ed Rosens jüdische Identität geprägt hat. Anders als Zichroni kommt Rosen aus einer säkular-jüdischen Familie in New York. Religion spielte keine Rolle, bis er 13 wurde und auf die Bar Mizwah vorbereitet werden sollte, das selbst unter diesen Vorzeichen unvermeidliche Fest der religiösen Mündigkeit. Statt ihn jedoch für den religiösen Weg zu gewinnen, führt die schwarze Pädagogik des Religionslehrers dazu, dass Rosen sich entschieden von Gott abwendet.

Eine Leserin hatte Schwierigkeiten mit dieser Exposition und bezeichnete sie etwas ratlos als den »jüdischen Vorspann«. Tatsächlich aber sehe ich in diesen ersten 15 Seiten des Romans die Exposition zu allem, was dann folgt: Der Lehrer konfrontiert den jungen Rosen mit einer Vision des Lebens nach dem Tod, das von grausamen Strafen geprägt ist für die Versäumnisse und Sünden unseres irdischen Lebens.

Auf dem Weg in die künftige Welt, dozierte er – und damit meinte er eine Welt jenseits der unseren – nach unserem Tod also müssten wir einen langen Weg durch eine Region zurücklegen, die Sheol genannt wird. Eine Prüfung sei diese Reise, auf der wir Rechenschaft ablegen müssten über unser irdisches Leben wie vor einem Gericht. Und im Sheol, fuhr er fort, würden uns keine Lügen helfen. Jedes Detail über unser Leben sei dort offenbar. Wir würden zwar unseren irdischen Körper abgelegt haben, dafür aber in einer Art Geistkörper wandeln, und an jenen Körperteilen, mit denen wir in der hiesigen Welt gesündigt hätten, würden wir dort untrügliche Zeichen tragen, die unsere Vergehen offenbarten: Verkrüppelungen oder Verkümmerungen. Eine winzige Hand beispielsweise, weil unsere Hände im Leben den Bedürftigen nicht hatten geben wollen. Oder riesige Ohren, weil wir zu Lebzeiten auf Klatsch und Tratsch und jede Art übler Nachrede begierig gelauscht hatten. Auch könnte es sein, dass wir uns im Sheol mit nur einem Auge wiederfänden, weil wir in dieser Welt ein Auge verschlossen hatten vor den göttlichen Wahrheiten oder weil wir – nicht weniger schlimm – unseren Blick an die Nichtigkeiten des schönen Scheins geheftet hatten. Was genau und in Gänze darunter zu verstehen sein mochte, überließ er meiner pubertären Phantasie. Die aber kam nicht zum Zuge, denn ich war, nachdem ich das alles gehört hatte, einfach nur wütend.

Mit diesen Ausführungen hatte er mich sofort und für immer für die Sache Gottes verloren. Er muss blind oder dumm gewesen sein oder – herzlos. Vielleicht war es auch eine Mischung aus all dem. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Ein Blick in mein Gesicht hätte ihm genügt haben müssen, um zu wissen, dass er mich mit seiner Sheol-Vision verschonen musste oder doch zumindest mit den Details über die versehrten Geistkörper der zu prüfenden Seelen.

Ed Rosen nämlich ist auf einem Auge blind, und dass mit seinem rechten Auge etwas nicht stimmt, ist nicht zu übersehen.

Als nun aber mein Lehrer, der doch gehofft hatte, mich für Gott zu gewinnen, mir mit dieser Geschichte der versehrten Geistkörper kam, hatte er ausgespielt. Ging es nach mir, lebte ich, solange ich denken konnte, in diesem Zustand, den er als Vorhölle bezeichnete, in diesem Raum der permanenten Prüfung, in dem man die Schmach der Sünden eines ganzen Lebens offen zur Schau trug. Meine Schande stand mir ins Gesicht geschrieben. In dieser Welt. Was hätte ich noch auf seine Sheol-Warnungen geben sollen?

All die Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, drängte zum Ausbruch, und da ich mir nicht erlauben konnte, sie ihm gegenüber zu zeigen, lenkte ich meinen Zorn auf das, was er Gott nannte. Ich verwarf diesen Gott ohne Zögern. Ich goss meine Wut über die Vorstellung von ihm aus. Und die Geschichten, die mein Lehrer mir erzählt hatte und noch erzählen würde, wanderten in die Abgründe meines Gedächtnisses, ins Sheol meiner Erinnerung, hinab, hinfort, aus dem Sinn, aus meinem Leben. Nichts, aber auch gar nichts wollte ich mit solchen Geschichten und ihren Urhebern zu tun haben.

Das also ist die Ausgangslage. Anders als die Protagonisten in der »Leinwand« entscheidet sich Rosen für den »griechischen Weg«. Naturwissenschaften, Informatik, »künstliche Intelligenz«, das bestimmt sein Leben. Dazu kommt ein gestörtes Körpergefühl, wie es bei »ungeliebten Kindern« nicht selten ist, und das er schließlich zu kompensieren versucht durch eine sich letztlich bis in den Kult steigernde Fixierung auf das Körperliche in all seinen Facetten. Nicht ohne Grund ist es gerade Pan, der Hirtengott der griechischen Mythologie, der sehr bald in Rosens Leben tritt und den er sich als Begleiter erwählt.

Die Komposition des Romans sorgt dafür, dass wir an keiner Stelle sicher wissen können, was Traum ist und was Realität, was tatsächlich geschehen ist und geschieht und was dem Bereich der manipulierten Wirklichkeit – dem Replay eben – zuzurechnen ist. Fest steht nur, dass Rosen, während er erzählt, im Bett liegt, das gesamte Buch über. Und fest steht am Ende auch, dass er sich in einem Zustand befindet, aus dem es für ihn keinen Ausweg geben wird. Der »grüne Schriftzug der Erlösung«, den er am Ende sieht, ist – und er weiß es – eine Lüge.

Die Dystopie, die der Roman erzählt, ist Rosens Sheol, seine ganz persönliche Hölle, ein Taumeln von Replay zu Replay, von einer manipulierten Erinnerung zur nächsten.

Es gibt noch eine dritte Verbindung mit der »Leinwand«. Wechsler erzählt dort von seinen Lektüren, auch von Orwells »1984«. »Replay« nun nimmt ein Motiv aus »1984« auf: Im »Ministerium für Liebe« werden bei Orwell die Renitenten umerzogen. Dem Engsoz-Regime genügt es nicht, sich Dissidenten per Exekution vom Hals zu schaffen. Stattdessen werden sie im »Raum 101« mit körperlicher und psychischer Folter dazu gebracht, sich »freiwillig« in die Umstände zu ergeben, gegen die sie opponierten. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem Bett, in dem Rosen liegt, während er erzählt, um seinen persönlichen »Raum 101« handelt.

Anders als bei Orwell ergibt sich Rosen in »Replay« aber tatsächlich freiwillig. Denn die Diktatur, die er selbst mit errichtet hat, ist eine hedonistische Diktatur nicht nur der unbeschränkten Kommunikation, sondern auch der sinnlichen Genüsse. Sich der Corporation zu ergeben, ist so – angenehm…

Worüber sollte ich mich beschweren? Ich liege im Bett, von den Wänden meines phantastischen gläsernen Palastes umgeben, die mich vielleicht einsperren, aber auch einen atemberaubenden Ausblick bieten: auf der einen Seite der Ozean, auf der anderen ein paradiesischer Garten. Ich kann mich zurücklehnen, dösen und mich erzählen lassen oder mich selbst erzählen in immer neuen Varianten.

Rosen wähnt sich in Arkadien, während wir doch stark vermuten müssen, dass er im Sheol treibt.

Mich bekümmert nur, dass ich mich im Kreis bewege und ein und dieselbe Geschichte in immer wieder neuen, geringfügigen Abwandlungen durchleben muss, die allesamt damit enden, dass ich allein bin, von meinen Frauen verlassen. Wenn mir das System nicht ab und an einen Brosamen aus den Entertainmentkanälen überlässt, werde ich nichts Neues mehr erleben und auf ewig im Kreis meiner Erinnerungen treiben.

Eigentlich bin ich längst tot und vegetiere nur noch in einem Zwischenreich vor mich hin. So wird es von nun an bleiben.

»Ich liebte den Großen Bruder«, sagt O’Brien am Ende von »1984«. Und in »Replay« betont Rosen:

Ich liebe, was wir geschaffen haben. Ich liebe das UniCom, und wenn ich entscheiden müsste, was ich am meisten an diesem technischen Wunderwerk liebe, dann dies: Dass ich jeden Morgen im Paradies erwache.

Die perfekte Diktatur ist wohl jene, der es gelingt, allen das Gefühl zu geben, frei zu sein und jeden Morgen im Paradies zu erwachen. Aber wenn die Illusion auch perfekt sein sollte, bliebe es dennoch eine Diktatur.

13 Reaktionen zu “Höhle der Löwen”

  1. Aléa Torik

    Lieber Benjamin Stein,

    was Sie beschreiben, das gibt es bei meinem Verlag gar nicht. Der ist auch ein wenig kleiner. Mein erstes Buch kommt im Frühjahr heraus. Alles, was ich bisher über das Herstellen von Büchern wusste, hat das Schreiben betroffen. Das vielfache Korrekturlesen und Überarbeiten war mir zuvor nicht bewusst. Auch was die Veröffentlichung betrifft, hatte ich eine offenbar naive Auffassung. Ich dachte, das kommt raus und dann ist es da. Dass dieses ‚da‘ spezifiziert werden muss und dass das ein richtiges Geschäft ist, war mir nicht klar. Bücher, die einfach nur da sind, sind eben auch nicht mehr als das: sie sind eigentlich nirgendwo. Keiner kauft sie, keiner kennt sie, keiner liest sie und am Ende der Verwertungskette gibt es dann doch noch einen: der für die Makulatur zuständig ist.

    Was Sie hier über Ihren neuen Text erzählen, klingt spannend und interessant. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Vorstellung.

    Herzlich
    Aléa Torik

  2. Kerstin Klein

    Und? Wie bist Du angekommen?

  3. Benjamin Stein

    Mit dem Taxi!

  4. Kerstin Klein

    Aaaargh!!!!

  5. Andreas Kurzal

    Live aus der Vertreterkonferenz: Die Buchpräsentation war sehr überzeugend, charmant im Vortrag und hat die Vertreter nebst Verlagsleute sehr entzückt: vielen Dank!
    Und beste Grüße
    Andreas

  6. Benjamin Stein

    Was will man mehr? Autor ist glücklich. Jetzt nur noch drei Monate warten, seufz.

  7. Jens-Christian Fischer

    In der Zeit hast Du doch bereits das nächste Buch geschrieben ;)

    Gratuliere zum erfolgreichen Vorstellen!

  8. Benjamin Stein

    Bücher, die einfach nur da sind, sind eben auch nicht mehr als das: sie sind eigentlich nirgendwo. Keiner kauft sie, keiner kennt sie, keiner liest sie und am Ende der Verwertungskette gibt es dann doch noch einen: der für die Makulatur zuständig ist.

    @Aléa Torik: Mir ist das auch relativ spät klar geworden. Bei meinem ersten Verlag versuchte der väterliche Verleger, mich ein wenig von diesen Umstand abzulenken. Als ich dann selbst Bücher verlegt habe, wurde mir, was Sie beschreiben, überdeutlich klar.

    Ich denke unterdessen: Ein Buch existiert erst, wenn es gelesen wird. Und es bleibt nur (und nicht einmal das notwendigerweise), wenn es viel gelesen wurde.

    Ha, ich gehe ich Deckung. Ich ahne schon die herannahenden Proteststimmen.

  9. ksklein

    @Andreas: Danke für die Info. :)

    @jcf: Gute Idee. Dann wäre er die nächsten Monate wenigstens beschäftigt.

  10. Aléa Torik

    Lieber Benjamin Stein,

    Ich denke unterdessen: Ein Buch existiert erst, wenn es gelesen wird. Und es bleibt nur (und nicht einmal das notwendigerweise), wenn es viel gelesen wurde

    Sie haben ihn erwartet, und da ist er auch schon, der Widerspruch.
    Was Sie sagen, ist meiner Meinung nach falsch, weil Sie – erstens – nicht quantifizieren können was „viel“ ist und Sie mir sagen müssten, warum 9999 verkaufte Exemplare es noch nicht ist, eins mehr aber doch. Austauschbar gegen jedes beliebige Zahlenpaar. Und wenn Sie – zweitens – Hundertausend Leser haben, muss noch nicht einer dabei sein, der es zu einem bleibenden Buch macht. Drittens kann eine Quantität nicht in eine Qualität umschlagen. Und – viertens – verschieben Sie das Problem an eine Stelle, wo es nun wirklich nicht hingehört: auf den Leser. Ob es ein bleibendes Buch wird, liegt nicht an hundert oder tausend oder hunderttausend Lesern. Es liegt nur an einem: dem Autor. Und vielleicht, damit Sie an dieser wichtigen Stelle nicht so alleine sind, auch am Lektor. Mitgehangen – Mitgefangen.

    Sehr verständlich ist allerdings der Wunsch, gelesen werden zu wollen. Und der kann ja ruhig auf die Hundertausend abzielen. Das ist ja das Schöne beim Wünschen: das ist nach oben offen.

    Aéa Torik

  11. ksklein

    @Aléa Torik: und was genau macht das Buch zu einem bleibendem Buch?

  12. Benjamin Stein

    Ob es bleibt, meine ich, liegt unbedingt am Leser, der vielleicht nur 1 Leser ist, der sich noch oft an das Buch erinnert, dem es etwas bedeutet hat. »Viel« würde ich nicht an einer bestimmten Zahl festmachen wollen. Aber die Quantität ist nicht unerheblich: Je mehr Leser, desto größer die Chance, dass sich unter ihnen der oder die findet, die dem Buch zum Bleiben verhilft.

    Der Autor kann für seinen Text nichts mehr tun, wenn er erstmal da draußen ist. Dann, das meine ich wirklich, zählen die Leser. Denn nur sie können das Buch durch ihre Lektüre immer wieder neu erschaffen, ganz nach Oscar Wilde:

    In Wahrheit spiegelt die Kunst den Betrachter, nicht das Leben.

    Ist das verständlicher?

  13. Aléa Torik

    Jetzt habe ich den Widerspruch erwartet: und er kam auch sogleich. Das funktioniert ja ganz gut!

    Liebe ksklein,

    wenn ich wüsste, was ein Buch zu einem bleibenden macht, dann wüsste ich so viel, dass die Lottozahlen vom Wochenende eine Kleinigkeit wären. Das weiß man eben wirklich nicht, ob man mit seinem Thema in die richtige Zeit fällt, ob man mit Cover und Verkaufsstrategie und Glück wenigstens viele Exemplare verkauft, ohne deswegen gleich schon von einem bleibenden Wert zu sprechen. Und ob hoffentlich nicht so ein Blockbuster die Hälfte aller ernsthaften Leser vom Markt abzieht. Als Tellkamp 700.000 Exemplare vom Turm verkauft hat, war nicht mehr viel Platz für andere Bücher.
    Wenn ich eine Antworte geben müsste, was ich nicht kann, lautete sie wahrscheinlich in etwa so: die Unvorhersehbarkeit, ob es zu einem bleibenden Buch wird.

    Das das ist natürlich alles andere als eine befriedigende Antwort.

    Lieber Benjamin Stein,

    dann müssten wir uns über das Bleiben unterhalten: ich dachte, Sie meinen ein Bleiben wie etwa: im Markt präsent bleiben. Aber Sie meinen offenbar eines, das etwas mit der Erinnerung des Lesers nach dem Ende der Lektüre zu tun hat.

    Das ist ein schönes Zitat von Wilde. Es trifft etwas, möglichweise sogar die Wahrheit. Die Kunst spiegelt heute sicher eines nicht mehr: diese Wahrheit. Spiegelt die Kunst das Leben? Das hätte sicher Flaubert mit „Madame Bovary“ unterschrieben. Wilde unterschrieb, dass die Kunst den Betrachter spiegelt. Nicht wenige unterschreiben, dass sie sich selbst spiegelt. Oder sie spiegelt immer das, was man hineinsieht. Und im Spiegel wird aus einer Fratze kein schönes Gesicht. Vielleicht spiegelt sie gar nichts.
    Das ist schon nicht mehr das Thema.

    Ich glaube einfach nicht, dass das Buch durch den Leser neu erschaffen wird, es wird durch ihn gekauft und gelesen. Erschaffen wird es nur einmal. Vom Autor. Und der ist leider in der schlechten Position, dass er es eben, wenn er mit der Verfertigungsprozess am Ende ist, nicht mehr verändern kann. Deswegen projiziert er – spiegelt – auf den Leser, der oder die könne es tun. Er oder sie könne es mir seiner Lektüre erschaffen.

    In einer Diskussion wo man sich gegenübersitzt, lässt sich so etwas leichter formulieren und verteidigen als im Netz.

    Aléa

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