Zum Auftakt des Davis-Cup-Finales zwischen Australien und Spanien, das 2003 in der Rod-Laver-Arena in Melbourne ausgetragen wurde, sollte Morrison die spanische Nationalhymne spielen. Und er spielte sie. Wochen zuvor schon hatte man ihm die Noten zugeschickt. Die Tonart sei für die Trompete problematisch gewesen, aber er habe das Stück nicht transponieren wollen, weil er davon ausgegangen war, dass einige der anwesenden Spanier ihre Hymne würden mitsingen wollen. Also hatte er sich redlich gemüht und geübt und war bestens vorbereitet.
Es war, erzählte er, ein wenig schräg: Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Dort stand das spanische Team und schaute zu mir herüber. Aber ich bin Australier! Ich hätte unser Team anfeuern sollen. Stattdessen spielte ich die Hymne der Spanier. Was soll’s, sagte ich mir: Es ist ein Job. Ich wollte es gut machen. Dieses Stück sollte so etwas wie der verlängerte rote Teppich sein, auf dem wir die Spanier und ihren König willkommen hießen.
Ich spielte also, und alles lief wunderbar. Das Event wurde im Fernsehen übertragen. Hunderttause Spanier und Australier und Tennisfans in aller Welt sahen zu. Der spanische König Juan Carlos saß auf der Tribüne. Als ich geendet hatte, winkte ich und trat ab. Alles war bestens. Oder etwa nicht?
Das war nicht die Hymne, flüsterte einer der spanischen Betreuer Morrison zu.
Wie bitte? fragte er zurück: Ich kann nichts verstehen, es ist so laut.
Tatsächlich schwappte von den spanischen Rängen das Johlen und Pfeifen einer entrüsteten Menge. Die Spieler auf dem Court blickten betreten zu Boden. Der spanische Botschafter wedelte in seiner Loge wütend mit der Faust, und auch der König wirkte nicht amüsiert. Morrison hatte die Himno de Riego der Zweiten Spanischen Republik gespielt, ein Kampflied, mit dem die Republikaner Anfang der 1930er Jahre Juan Carlos‘ Vorgänger aus dem Königspalast und ins Exil getrieben hatten. Das war wohl einmal die spanische Hymne gewesen, aber vor langer Zeit. In Spanien war das Lied wahrscheinlich seit dem Bürgerkrieg nicht mehr gespielt worden, wenn nicht sogar verboten.
Aber, stammelte Morrison: Sie haben mir gesagt, was ich spielen soll!
Der Kapitän des spanischen Teams trat vor und rief Morrison zu: Geh ja nicht weg! Wir werden nicht spielen, bevor wir nicht unsere Hymne gehört haben.
Kurz: ein Desaster. Irgendjemand hatte unterdessen eine CD mit der richtigen Hymne gefunden und spielte sie ab. Und bevor Morrison noch recht zu sich gekommen war, wurde er von der Security aus dem Stadion eskortiert und zum Flughafen gebracht.
Soweit die Geschichte, sagte Morrison und wischte sich mit dem Poliertuch den Schweiß von der Stirn. Was steht in der Wikipedia? Morrison spielte die falsche Hymne. Stimmt. Später räumte er in einem Interview ein, er hätte das Stück aus dem Internet gezogen.
Stimmt nicht! rief Morrison. Wie kommen die nur darauf?
Er habe überlegt, mit wem man sich wohl in Verbindung setzen müsste, um eine falsche Behauptung aus einem Wikipedia-Artikel entfernen zu lassen. Da sei ihm aufgefallen: Hey, jeder kann dort alles editieren. Man muss niemanden fragen. Also editierte er den Beitrag kurzerhand und stellte richtig, dass Morrison – also er selbst – in diesem ganzen Fall nicht Täter sondern Opfer gewesen sei. Man hatte ihm die Noten geschickt. Jemand anderes hatte den Fehler gemacht oder aber es genau so gewollt.
Das, schloss der Musiker seine Conference, sei doch mal eine Segnung des technischen Zeitalters! Man stelle sich vor, dieser gefährliche Unsinn wäre in einem ledergebundenen Lexikon gedruckt erschienen. Er wäre das Stigma nie wieder losgeworden.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 26. Juni 2011 um 09:17 Uhr
Steht aber bei Wikipedia noch drin.
Am 26. Juni 2011 um 12:22 Uhr
Richtig. Und warum das so ist, kann man morgen hier nachlesen.
Am 26. Juni 2011 um 17:00 Uhr
Bin gespannt.