In der Firma ging es nun hektisch zu. Matana gab sich einsilbig. Alle Teams wurden zum Rapport einbestellt, Experimente zum hundertsten Mal wiederholt, um letzte Gewissheit zu bekommen, dass alles perfekt vorbereitet war und das Implantat funktionieren würde. Die Nervosität steckte mich an, und damit ich mich und die anderen nicht zu sehr verrückt machte, wurde ich beurlaubt. Ich sollte mich ein paar Tage ausruhen, versuchen, an anderes zu denken und vor allem: mir keine Sorgen machen.
Das war leichter gesagt als getan. Am Tag vor der OP tigerte ich vom frühen Morgen an durch meine Wohnung. Es gab nichts mehr zu tun für mich als abzuwarten und den anderen zu vertrauen. Glücklicherweise kam Katelyn zu Besuch. Sie hatte sich ausgemalt, wie es um mich stehen musste und präsentierte mir stolz zwei Eintrittskarten für einen Jazzclub, in dem wir einige Monate zuvor schon einmal gewesen waren.
Jazz? fragte ich ungläubig: Heute?
Warum nicht? antwortete sie. Was willst Du sonst tun? Auch den Rest des Tages in der Wohnung auf und ab laufen?
Also machten wir uns auf den Weg. Der Club war gesteckt voll. Wir saßen an einem Zweiertisch direkt vor der Bühne. Mit zehn Minuten Verspätung traten die Musiker auf, das James Morrison Quartett, zu Gast aus Australien, Brian Kellock am Piano, Kenny Ellis am Bass, Stu Ritchie an den Drums und natürlich Morrison selbst, der neben seiner Trompete und einer Posaune ein halbes Dutzend Schalldämpfer mit auf die Bühne brachte sowie ein großes Tuch, mit dem er seine Instrumente noch einmal aufpolierte, so dass sie im blaurosagrünen Scheinwerferlicht wie mit Strass besetzt funkelten.
Ich weiß nicht, ob es an meiner Anspannung lag oder an den Musikern, rechte Begeisterung kam jedenfalls nicht bei mir auf. Katelyn ging es ähnlich. Ich glaube sogar, dass sie zwischendurch eindöste. Morrison spielte technisch brilliant. Er führte Kunststücke vor, die eigentlich unmöglich waren. Einmal entlockte er seiner Posaune polyphone Klänge, dann wieder hielt er die Trompete in der rechten, die Posaune in der linken Hand und spielte abwechselnd einhändig. Mit der Trompete gab er ein Motiv vor, das er dann auf der Posaune wiederholte, ohne deren Zug bedienen zu können. Das war erstaunlich. Es wirkte wie ein akrobatisches Kunststück, als wäre es ihm gelungen, die physikalischen Gesetze außer Kraft zu setzen. Aber in all dem fehlte mir die Inspiration, die Beseelung, echte eigene Begeisterung, die von ihm auf das Publikum hätte überspringen können. Man hatte den Eindruck, da wäre ein Routinier am Werk, der zum hundertsten Mal ein Programm abspulte. Natürlich klatschten wir, und wir johlten sogar, als sich Kellock und Morrison bei einem Armstrong-Tribute dann doch noch gegenseitig zu einem rauschhaften Dialog aufschwangen. Aber die Highlights des Abends, den man sonst eher als Enttäuschung hätte abbuchen müssen, waren – zumindest für mich – Morrisons Conference-Einlagen.
Kurz vor der Pause erzählte er zwischen zwei Stücken, dass er kürzlich in seinem eigenen Wikipedia-Eintrag gelesen habe. Er habe sich nicht etwa selbst gegoogelt – wer würde das schon tun? – sondern sei bei Recherchen zu einem ganz anderen Thema auf Wikipedia gelandet und Klick um Klick schließlich unversehens zu dem Artikel gekommen, der ihn selbst – James Morrison – zum Gegenstand hatte. Unter der Überschrift Trivia habe er eine Geschichte gelesen, die er unbedingt korrigieren müsse. Um das zu können, musste Morrison allerdings zunächst erzählen, worum es in der fraglichen Passage des Artikels gegangen war.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)