Ein Huf auf dem Nacken

22. Juni 2011

Ich atmete tief und drehte den Kopf zur Seite. Konnte das sein? Oder war es eine Täuschung? Das waren doch die zierlichen Füße der Masseurin, die ich warm im Rücke spürte. Auf der Wand aber waberte ein riesiger aufrechter Schatten: muskulöse Beine, ein gewaltiger Oberkörper und da, das konnte doch nicht … gewundene Hörner!

Ich schrie. Ich wollte aufspringen und das Monster abschütteln, aber ich konnte mich nicht bewegen. Statt eines zarten Fußes glaubte ich nun, einen Huf auf meinem Nacken zu spüren. Ich wusste nicht, ob das markerschütternde Geheul, das ich hörte, mein eigenes panisches Schreien war oder das grausige Lachen Pans, der auf meinem Rücken einen irren Tanz vollführte.

Nicht einmal, als der Schatten sich aufgelöst hatte, die Masseurin wieder neben der Liege stand und auf mich einsprach – es sei doch nichts, es sei doch nichts! – konnte ich mich beruhigen. Ich zitterte, sprang von der Liege und kauerte mich hinter den Paravan auf den Stuhl. Wo war ich nur hingeraten?

Ich kann mich nicht erinnern, wie es dem goldenen Drachen gelungen war, mich zu beruhigen. Irgendwann zog ich mich an und verabschiedete mich unter tausend umständlichen Entschuldigungen. Es war mir peinlich, eine solche Szene gemacht zu haben. Ich erinnere mich allerdings, dass ich erstaunt war, mit welcher Langmut die Masseurin meinen Auftritt hingenommen hatte, ganz so, als würde es öfter geschehen, dass Kunden in diesem Laden einer Illusion aufsaßen und in panischem Schrecken von der Liege sprangen.

Sollte Matana etwa gewusst haben, was mich hier erwartete? Konnte er geahnt haben, was ich sehen würde? Und wennschon nicht was, so doch immerhin dass ich etwas Außergewöhnliches erleben würde, das jedenfalls über das Erlebnis einer Thai-Massage weit hinausging? Nein, dachte ich, das konnte er nicht. Wenn er mir etwas hatte mitteilen wollen mit diesem Geschenk, dem Gutschein und seiner Zeichnung des Watt’schen Reglers, dann konnte es nichts mit dem Pan zu tun haben, der auf meinen Rücken seinen wilden Tanz aufgeführt hatte.

Wahrscheinlich, nahm ich an, hatte ich die grausige Verspannung meiner Muskeln spüren und so endlich zu Kenntnis nehmen sollen. Matana, das hätte ich unterdessen wissen müssen, liebte Inszenierungen. Es war gut möglich, dass er aus reiner Inszenierungsfreude zu solch aufwändigen Mitteln gegriffen hatte, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich eventuell ein wenig übertrieb mit meinem Training, den Pilatesstunden und vor allem meinem extremen Pushup-Programm. So jedenfalls legte ich mir die Lösung des Rätsels zurecht. Die bohrenden Ellbogen des goldenen Drachens waren so etwas wie die negative Rückkopplung gewesen, die mich zur Besinnung hatte bringen sollen, zurück zu einem ausgewogenen Maß.

Das konnte ich als wohlgemeinten Ratschlag annehmen und beherzigen. Was mir darüber hinaus jedoch widerfahren war, würde ich für mich behalten. Ich schüttelte ja selbst den Kopf über mich und wusste nicht recht, was ich von mir halten sollte. Für gewöhnlich stand ich doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden wissenschaftlicher Tatsachen. Wenn ich begann, an Übernatürliches zu glauben und mich vor den Schatten eingebildeter Fabelwesen zu fürchten, gefährdete ich womöglich unser Experiment oder disqualifizierte mich gleich ganz für die Transplantation. Nein, ich musste den Vorfall für mich behalten und auf die Diskretion der Masseurin hoffen.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

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