Hängepartie

3. Februar 2011

Als vor einigen Jahren die ersten 3D-Filme in den Kinos gezeigt wurden, war ich nie versucht, mir einen anzuschauen, weil ich davon ausging, ich würde nichts davon haben. Inzwischen gibt es manche Filme nur noch in 3D. Also habe ich es versucht. Als ich die 3D-Brille, die ich am Eingang bekommen hatte, aufsetzte, war ich noch skeptisch. Als dann aber der Vorhang aufging und der Film begann, überwältigten mich die Bilder wie nichts anderes je zuvor. Ich hatte keine Ahnung, wie es funktionierte, aber das tat es. Starrte der Held in einen Abgrund, fühlte ich tatsächlich die gähnende Tiefe. Alles kippte ins Bodenlose. Ich stürzte in eine völlig unbekannte Welt und wälzte mich genussvoll in den Bilderfluten. Es war wie ein Trip, ein berauschendes Fest, wie ich es noch nie erlebt hatte.

Läufer e2-d3 diktierte ich meinen nächsten Zug, und während Matana schrieb und ich setzte, gab ich zu, dass es schön wäre.

Schön! Matana seufzte. Das ist alles?

Zum ersten Mal zog er die Dame: d8-c8. Er brachte die Artillerie in Stellung.

Weißt du, sagte er: Während meines Studiums hat uns ein Professor mit einer besonderen Ameisenart aus den Anden bekannt gemacht. Durch eine Laune der Natur fehlt diesen Tieren das Sensorium für die dritte Dimension. Setzt man eine solche Ameise auf eine Kugel, hört sie nicht auf zu laufen. Für sie ist es ein stetiges Vorankommen auf einer endlosen Ebene. Sie merkt nicht, dass sie sich im Kreis bewegt, den immer gleichen Weg wieder und wieder zurücklegt. Ich bin sicher, dir würden die Augen aufgehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Du würdest dich in einer Welt wiederfinden, wie du sie heute nicht einmal erahnst.

Nimm allein dieses Blatt, sagte er, und zeigte auf den Block, auf dem er den Fortgang unserer Partie protokolliert hatte, als hätte er in Kurzschrift unser Gespräch notiert. Für jemanden, der nicht Schach spielen kann, bedeuten diese Zeichen gar nichts. Ich glaube, du ahnst nicht einmal, was du entdecken könntest.

Ich wusste genau, was er meinte. Mein Großvater konnte blind spielen. Um es mir leichter zu machen, nahm er oft Block und Stift und setzte sich mit dem Rücken zum Brett. Ich musste meine Züge ansagen. Er notierte sie und verkündete seine Erwiderung. Auf dem vorgestellten Spielfeld führte er seine Figurenarmee sicherer als ich die meine auf dem Brett, das vor mir stand. Ich hatte oft geträumt, eines Tages wie er mit geschlossenen Augen in den Chiffren eine ganze Welt zu sehen, ein König zu sein, hoch oben auf den Zinnen des Turms, und das Spielfeld mit allen Figuren zu überblicken wie ein weites Reich, das ganz mir gehört.

Warum willst du dich nicht belohnen mit den Früchten deiner eigenen Arbeit?

Auch ich kann schießen, dachte ich und brachte wie er meine Dame in Stellung.

Dd1-c2, sagte ich. Lassen wir es dabei.

Einverstanden. Matana zuckte die Achseln. Er hätte nichts einzuwenden gegen eine Hängepartie. Dabei hatte ich unser Gespräch gemeint, mit dem er mir mehr zusetzte als auf dem Schachbrett. Er riss einen Zettel vom Block, notierte seinen nächsten Zug und versteckte den Zettel zusammengefaltet hinter meinem Rücken in einem der Bücher in meinem Regal. So hielten wir es immer, wenn wir eine Partie unterbrechen mussten. Ohne Umschweife machte Matana sich auf.

Nichts für ungut, sagte er, während er, schon in der Tür, umständlich seinen Mantel zuknöpfte: Ich wollte es nur erwähnt haben.

Ja, sagte ich und winkte ab. Das sei kein Thema für einen späten Abend. Er nickte und ging, und als ich die Tür geschlossen hatte, kam es mir vor, als würde der Boden unter meinen Füßen schwanken.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

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