Auge • © Thomas Seliger
Dein Auge, sagte er.
Das traf mich wie ein gezielter Schlag in den Magen. Wie wenig hatte ich doch erreicht! Mein positives Körpergefühl war von den Füßen aufgestiegen, aber unter der Augenlinie hatte es halt gemacht. Es genügte offenbar noch immer die bloße Erwähnung meines unübersehbaren Defekts, um mich in die Gefühlswelt meiner Kindheit zurück zu katapultieren, in ein Chaos aus Verletzungen, Scham und Wut darüber, nicht ändern zu können, weswegen ich begafft und gehänselt wurde. Es konnte doch wohl nicht möglich sein, dass ausgerechnet Matana, der dieses Gefühl kennen musste, einem ähnlichen Impuls der Neugier nachgegeben hatte.
Natürlich wusste ich, dass er sich für Augen interessierte. Als Biologe hatte er sich über Jahrzehnte mit dem menschlichen Sehvermögen und den Ursachen verschiedenster Sehstörungen beschäftigt. Es war auch kein Zufall, dass das Logo seiner Firma ein Paar weit geöffneter Augen darstellte. Matanas Vision war es, Blinde sehend zu machen, was nach seiner Vorstellung bedeutete, ihnen eine Welt zu Füßen zu legen oder – noch genauer – eine Welt für sie zu erschaffen.
Als er mich einstellte, hatte er bereits mehrere Prototypen implantierbarer Sensoren entwickelt. Ein Team seines Instituts erforschte die Möglichkeiten der Vernetzung von Nervengewebe mit elektronischen Transmittern, und die Aufgabe meines Teams bestand darin, die Sensordaten in Signale zu übersetzen, mit denen das menschliche Gehirn etwas anfangen kann. War es mir zuvor gelungen, ein Schachbrett voller Figuren in eine Zahl zu verwandeln, musste ich nun den entgegensetzten Weg erkunden: wie man Sensordaten in elektrische Impulse umsetzt, so dass sie dem Gehirn wie der natürliche Input eines gesunden Auges erscheinen.
Aber Matana hatte nicht von irgendwelchen Augen geredet.
Dein Auge, hatte er gesagt. In der Einzahl. Es war klar, was er meinte. Wie konnte er nur so taktlos sein?
Es war Zeit für eine Rochade. Ich zog, und auch Matana rochierte. Unsere Könige standen nun sicher verschanzt in gegenüber liegenden Ecken des Spielfelds. Ich aber hatte mit einem Mal Angst und überlegte, wie ich mich selbst in Sicherheit bringen könnte. Durch einen Witz, irgendeine Bemerkung, die vom Thema wegführte? Mit dem kleinen Finger schob ich den Turm von f1 nach e1. Aber Matana ließ nicht ab. Mit Sb8-c6 erhöhte er den Druck auf meinen Zentrumsbauern, und als wäre es nicht genug, mir auf dem Brett Probleme zu bereiten, blieb Matana beim Thema und präzisierte, was er meinte.
Hast du je überlegt, fragte er, das Implantat an dir selbst zu erproben?
Warum sollte ich? gab ich zurück. Ich bin nicht blind.
Ich zog c2-c3, um Matanas Angriff auf meinen Bauern mit verstärkter Verteidigung zu kontern. Damit aber hatte ich eine Flanke geöffnet. Mit Lc8-f5 besetzte Matana die herrenlose Diagonale und griff meinen Springer an.
Du könntest räumlich sehen lernen, sagte er: Ist das etwa nichts?
Das hat mir nie gefehlt, log ich. Ich musste ausweichen und rettete meinen Springer von b1 auf a3.
Springer am Rand ist eine Schand! hatte mein Großvater mich immer ermahnt, wenn ich es so weit hatte kommen lassen, dass mein Offizier im Abseits stand. Matana lächelte. Natürlich glaubte er mir nicht. Auch er schlenzte nun mit dem kleinen Finger seinen Turm von der f- auf die e-Linie.
Tatsächlich? fragte er scheinheilig.
Tatsächlich, log ich weiter und brachte meinen Springer mit a3-c4 aus dem Abseits wieder ins Spiel.
Natürlich hatte es mir gefehlt. Ich erinnerte mich an die langen Nachmittage im Park, die ich als Kind an der Hand meiner Nanny mit Balancierübungen zugebracht hatte. Es hatte ewig gedauert, bis ich nicht mehr abstürzte. Tischtennis, Handball, Geräteturnen – das alles hatte ich mit viel größerem Aufwand und Geduld lernen müssen als meine Schulkameraden. Und in manchen Bereichen geht es mir heute nicht besser. Will ich Wein eingießen, muss ich den Flaschenhals auf dem Rand des Glases aufsetzen, um nicht daneben zu gießen. Wirft mir jemand etwas zu, kann ich mich nur ducken. Den Gegenstand zu fangen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. Aber das alles sind keine Katastrophen.
Glaub ich dir nicht, sagte Matana trocken und leitete mit a7-a6 eine neue Attacke auf meinen gerade wieder zu Ehren gekommenen Springer ein. Es hatte wohl keinen Zweck zu leugnen.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 9. Juni 2011 um 17:48 Uhr
Hi Benjamin, »» das fiel mir grade ein, als ich Deinen Text las.