Arkadien, entzifferte ich.
Katelyn zog mich ungeduldig in Richtung des Vorhangs. Ich war mir nicht einmal sicher, dass die Ausstellung dort weiterging. Katelyn schon. Ohne zu zögern schob sie den schweren Samt beiseite und bugsierte mich in den arkadischen Teil der Hayman-Ausstellung.
Dieser Raum hatte exakt den gleichen Grundriss wie der erste, in dem wir gewesen waren. An den Wänden hingen ebenso viele Bilder im gleichen Großformat und Haymans – das musste ich einräumen – unverwechselbarer Handschrift. Die Gemälde hier aber stellten andere Motive dar als jene im ersten Raum. Alle Frauen, die Hayman auf seinen Amulettgemälden als Engel hatte auftreten lassen, begegneten uns hier wieder, jedoch mit hochgestecktem Haar, rasierten Achseln und blanker Scham. Hayman hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die so offengelegten Details der Frauenkörper in fotorealistischer Manier widerzugeben. Die Nacken und Achselhöhlen waren spektakulär, und ich gebe ohne Zögern zu, dass ich die erstaunlichen Variationen weiblicher Schöße mit ebenso viel ästhetischer Begeisterung wie Erregung betrachtete.
Die »arkadischen« Bilder Haymans unterschieden sich in noch einem anderen Punkt von denen im ersten Raum. Wenngleich offensiver in Szene gesetzt, waren die Frauen auch hier nicht das alleinige Hauptmotiv des jeweiligen Bildes. Denn es gab eine zweite Figur auf diesen Gemälden, sehr präsent und unverwechselbar. Es handelte sich um einen Mann, aus dessen Schläfen mehrfach gewundene Widderhörner wuchsen und dessen muskulöser, unbehaarter Körper knapp unter den Leisten in stämmige, mit dichtem Fell überwucherte Oberschenkel überging, die unter rückwärts gewandten Knien in gespaltenen Hufen endeten. Der Darstellung der beschnittenen, prall aufragenden Männlichkeit Pans hatte sich Hayman ebenso eingehend gewidmet wie den Schößen der Frauen. Dass der geäderte Schwanz nicht auf jedem Bild vollständig zu sehen war, lag lediglich daran, dass sich der Bocksfüßige in den meisten dargestellten Szenen mit den aus Engelswesen zu Nymphen gewordenen Frauen in phantasievollen Variationen leidenschaftlich vergnügte.
Kalligraphien oder Amulette entdeckte ich auf diesen Gemälden nicht, aber wenn man dicht an die Bilder heranging und genau das Gras betrachtete, auf dem die dargestellten Paare saßen, lagen und knieten, dann konnte man meinen, in den niedergedrückten Grashalmen noch Spuren der Form von Buchstaben und den Raziel-Symbolen zu erkennen, als wälzte sich Pan mit seinen Nymphen auf den Überresten der zerstörten Amulette, deren Schutz vergeblich gewesen sein mochte, in jedem Fall aber überflüssig geworden war.
Katelyn hatte unterdessen ihren Arm um meine Hüfte gelegt und sich an mich geschmiegt, als suchte sie Trost. Dabei betrachtete sie die Bilder nicht weniger versonnen als ich und wirkte alles andere als ängstlich.
Wir hatten den Rundgang beendet. Wieder am Eingang mit dem samtenen Vorhang angekommen, drehten wir uns beide noch einmal um und schauten in die Runde. Dann verließen wir Haymans Arkadien. Jedenfalls glaubten wir das. Denn der leere Raum, die Passage, durch die wir gekommen waren und in der wir uns nun doch eigentlich wieder hätten befinden sollen, hatte sich verändert. Der LED-Spot, der zuvor den griechischen Schriftzug auf dem Vorhang angestrahlt hatte, beleuchtete nun ein einzelnes Bild auf einer frei im Raum platzierten Staffelei. Es gehörte zu Haymans Arkadien-Serie. Dieses aber war ein Bild im Bild. Man sah eines der Pan-Gemälde auf einer Staffelei stehen, die gut und gern eben jene Staffelei sein mochte, die tatsächlich vor uns stand. Die Nymphe, die, wie ich nicht ohne Schaudern bemerkte, Katelyn ungemein ähnlich sah, stand aber außerhalb des Bildes, hielt Pan an der Hand, sah zu ihm auf und schien ihn ermuntern zu wollen, ihr zu folgen. Und tatsächlich war er in die Knie gegangen und hatte – als müsste er lediglich eine etwas zu hoch geratene Treppenstufe überwinden – einen Huf aus dem Bild gesetzt.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 30. Januar 2011 um 11:19 Uhr
[…] Bei allen deutlich spürbaren Anzeichen der Lust war es aber nicht einfach Begehren, das mich überkam angesichts der Szene vor uns. […]