Sichtbar werden

25. Januar 2011

Nein, ich fürchtete damals, so leicht konnte es nicht gewesen sein, und heute weiß ich es. Wolsey hat uns vor Gedanken gewarnt. Mit Gefühlen steht es nicht besser. Am schlimmsten ist es mit Gedanken, die aus Gefühlen aufsteigen, sich im Kopf einnisten und schließlich ins Unbewusste sinken. Sie wieder auszutreiben, ist nahezu aussichtslos.

Mein »Bride Groom Treatment« in Nees Salon war alles andere als eine Spontanheilung, aber es gab doch einen wesentlichen Effekt, der auf Heilung hoffen ließ: Ich hatte meinen Körper wiederentdeckt und begann, ihn zu lieben. Wie das Wohlbefinden bei den Massagen, die ich fortan jeden Monat in Nees Salon buchte, von meinen Füßen aufstieg, begann auch diese lange Zeit ganz undenkbare Liebe bei meinen Füßen. Ich ertappte mich dabei, wie ich sie, auf dem Sofa liegend, betrachtete. Ich fand sie schön, was durchaus nicht nur an Nees Pediküre-Künsten lag. Und dieses Gefallen ging nach und nach über in die Feststellung, dass ich es war, dem diese Füße gehörten und schließlich in Freude und Zufriedenheit darüber, dass mein Körper aus einem Feind zu einem Verbündeten zu werden schien. Dass es ausgerechnet meine Füße waren, die mir diese Freude bescherten, hatte einen großen Vorteil: Sie waren den größten Teil des Tages versteckt, in Strümpfen und meinen neuen Schuhen, und niemand außer mir wusste um mein Geheimnis.

Es war ein langwieriger Prozess. Ich eroberte mir meinen Körper von den Füßen aufwärts Zentimeter um Zentimeter zurück. Wenn ich es recht bedenke, war es ein Stück nachgeholter Kindheit und ein gehöriges Stück nachgeholter Pubertät. Indem ich begonnen hatte, mich selbst zu sehen, war ich auch für andere sichtbar geworden. Ich war endlich nicht mehr nur eine Art wandelnder Geist, dessen Namen höchstens von einem eingeweihten Zirkel Aufmerksamkeit zuteil wurde, weil er dem Autor bahnbrechender Forschungsarbeiten gehörte. Ich wurde wahrgenommen als körperliches Wesen, als ganzer Mensch, als Mann. Und dieses Interesse überraschte mich, und es gefiel mir umso mehr, als es neu für mich war. Ich hatte einiges nachzuholen, und das habe ich auch getan.

Vielleicht komme ich mit diesem Gedanken der Erklärung für meinen jetzigen Zustand näher… Vorausgesetzt, es wäre etwas dran an der Sheol-Theorie, und es gäbe in jenem Reich zwischen Leben und jenseitiger Welt so etwas wie exemplarische Strafen. Dann freilich hätten die Richter der Vorhölle mein persönliches Übel an der Wurzel gepackt – an den Füßen. Das würde in die Geschichte passen: die Sheol-Schergen als Bande von Spielverderbern. Ich muss nicht ganz bei Trost sein, das für möglich zu halten.

Ich sollte einen kühlen Kopf bewahren und, statt solchen Schauervisionen nachzuhängen, ein paar grundlegende Fragen klären. Zum Beispiel die, wo ich war, bevor ich eingeschlafen bin.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

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