Hätte mein Vater einen anderen Lehrer für meinen Bar-Mitzwa-Unterricht engagiert, wäre ich womöglich religiös geworden, denn was lag näher, als im Absender der codierten Nachrichten, die Auskunft über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu enthalten versprachen, Gott zu vermuten? Mein Leben wäre mit Sicherheit anders verlaufen, hätte mein Lehrer meine Vorstellung von Gott nicht mit Ängsten vergiftet, zunächst der trivialen Angst vor Mundgeruch und hässlichen, aus den Ohren sprießenden Borsten und schließlich einer ganz handfesten Angst. Als ich nämlich durch meinen Eifer beim Erlernen der hebräischen Vokabeln plötzlich doch Hoffnung in meinem Lehrer geweckt hatte, aus mir könnte noch einmal ein »Wissender« werden, wie er es nannte, da verdarb er mit einer Geschichte, die er selbst vielleicht gar nicht so wichtig nahm, für immer alles Religiöse für mich.
Auf dem Weg in die künftige Welt, dozierte er – und damit meinte er eine Welt jenseits der unseren – nach unserem Tod also müssten wir einen langen Weg durch eine Region zurücklegen, die Sheol genannt wird. Eine Prüfung sei diese Reise, auf der wir Rechenschaft ablegen müssten über unser irdisches Leben wie vor einem Gericht. Und im Sheol, fuhr er fort, würden uns keine Lügen helfen. Jedes Detail über unser Leben sei dort offenbar. Wir würden zwar unseren irdischen Körper abgelegt haben, dafür aber in einer Art Geistkörper wandeln, und an jenen Körperteilen, mit denen wir in der hiesigen Welt gesündigt hätten, würden wir dort untrügliche Zeichen tragen, die unsere Vergehen offenbarten: Verkrüppelungen oder Verkümmerungen. Eine winzige Hand beispielsweise, weil unsere Hände im Leben den Bedürftigen nicht hatten geben wollen. Oder riesige Ohren, weil wir zu Lebzeiten begierig auf Klatsch und Tratsch und jede Art übler Nachrede begierig gelauscht hatten. Auch könnte es sein, dass wir uns im Sheol mit nur einem Auge wiederfänden, weil wir in dieser Welt ein Auge verschlossen hatten vor den göttlichen Wahrheiten oder weil wir – nicht weniger schlimm – unseren Blick an die Nichtigkeiten des schönen Scheins geheftet hatten. Was genau und in Gänze darunter zu verstehen sein mochte, überließ er meiner pubertären Phantasie. Die aber kam nicht zum Zuge, denn ich war, als ich das alles gehört hatte, einfach nur wütend.
Mit diesen Ausführungen hatte er mich sofort und für immer für die Sache Gottes verloren. Er muss blind oder dumm gewesen sein oder herzlos. Vielleicht war es auch eine Mischung aus all dem. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Ein Blick in mein Gesicht hätte ihm genügt haben müssen, um zu wissen, dass er mich mit seiner Sheol-Vision verschonen musste oder doch zumindest mit den Details über die versehrten Geistkörper der zu prüfenden Seelen.
Es ist so: Die Muskeln, die mein rechtes Auge bewegen sollten, verweigern seit meiner Geburt den Dienst, und so steht dieses Auge unbeweglich im äußersten rechten Augenwinkel und starrt – nahezu blind – ins Leere. Ein Kainsmal, habe ich damals gedacht, könnte nicht schlimmer sein. Ein Gutteil meiner Kindheit habe ich bei Augenärzten und in Kliniken verbracht, in denen meine Eltern anerkannte und selbsternannte Stars der Augenheilkunde an mir operieren ließen. Erfolg hatten sie nicht. Als Folge der Operationen entstellte nun aber zusätzlich noch eine Narbe das Auge, und ich verlor die Gewalt über das Augenlid. Ich konnte es schließen. Es zu öffnen war aber schwer. Mal gelang es, mal nicht, als könnte ich nur bitten und sei auf die Gnade von Nerven und Muskeln angewiesen, ob sie meinem Wunsch wohl stattgeben würden.
Ich sollte kein Aufheben davon machen. Es muss grotesk erscheinen, wenn ich heute so davon rede. Aber als Kind und als Pubertierender, zu der Zeit also, als mein Bar-Mitzwa-Lehrer mir seine Sheol-Geschichte zumutete, bestimmte diese eigentlich doch kleine »Behinderung« mein Leben. Ich war fest davon überzeugt, dass meine Mutter mich nie gern hatte ansehen wollen, weil ich nicht das schöne Kind geworden war, dass sie sich so sehnlich gewünscht hatte. Ich selbst mochte mich nicht ansehen, und auch den Mädchen meines Alters, denen ich damals schon mit begierigen Blicken folgte, mutmaßte ich, konnte es nicht anders ergehen. Ich musste mit den Blicken der Neugier vorlieb nehmen. Die Blicke des Wohlgefallens und gar des Begehrens waren anderen vorbehalten.
Es nützte nichts, wenn man mir versicherte, andere seien doch viel schlimmer dran. Das mochte stimmen, doch die Leiden anderer waren nicht meine Leiden. Sie mochten das Gift sein, das ihnen die Tage vergällte. Mein Gift war mein eigenes Los, das Gefühl von Hässlichkeit, die Erfahrung der grausamen Unduldsamkeit anderer Kinder und Erwachsener gegenüber allem, das anders war, das aus der Norm des Symmetrischen und Ebenmäßigen fiel, aus der Norm des Erwarteten und Erwartbaren.
Mitunter hielt man mich für schwachsinnig und behandelte mich auch so – wegen eines kleinen Makels, einem aufsässigen und geschundenen Auge, das nicht so wollte wie ich selbst und wie die Welt um mich herum. Und diese Behandlung machte mich wütend. Ich war ein Bündel aus Wut und Aggression. Und die Angst, nie geliebt zu werden, überschattete alles, jede Freude des Alltags, jeden Erfolg auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Gerechtigkeit kannte ich nicht, und ich kannte kein Maß. Ich erwartete Lieblosigkeit und Verletzungen, und wenn man mir liebevoll begegnete, hielt ich es für Schauspielerei.
Ich sollte kein Aufheben davon machen. Wenn ich heute in den Spiegel schaue, verstört mich nicht mehr, was ich sehe, sondern nur noch, woran ich mich erinnere. Grotesk scheint mir heute, wie sehr ich mich selbst verletzte und ausschloss durch meine Erwartungen an die Reaktionen und Empfindungen anderer. Grotesk. Aber lassen wir das.
Als nun aber mein Lehrer, der doch gehofft hatte, mich für Gott zu gewinnen, mir mit dieser Geschichte der versehrten Geistkörper kam, hatte er ausgespielt. Ging es nach mir, lebte ich, solange ich denken konnte, in diesem Zustand, den er als Vorhölle bezeichnete, in diesem Raum der permanenten Prüfung, in dem man die Schmach der Sünden eines ganzen Lebens offen zur Schau trug. Meine Schande stand mir ins Gesicht geschrieben. In dieser Welt. Was hätte ich noch auf seine Sheol-Warnungen geben sollen?
All die Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, drängte zum Ausbruch, und da ich mir nicht erlauben konnte, sie ihm gegenüber ausbrechen zu lassen, lenkte ich meinen Zorn auf das, was er Gott nannte. Ich verwarf diesen Gott ohne Zögern. Ich goss meine Wut über der Vorstellung von ihm aus. Und die Geschichten, die mein Lehrer mir erzählt hatte und noch erzählen würde, wanderten in die Abgründe meines Gedächtnisses, ins Sheol meiner Erinnerung, hinab, hinfort, aus dem Sinn, aus meinem Leben. Nichts, aber auch gar nichts wollte ich mit solchen Geschichten und ihren Urhebern zu tun haben.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 19. Januar 2011 um 10:19 Uhr
Nach rückblickender Erkenntnis dieser Prägung – gibt es dann nicht eine Chance, diese zu überwinden?
Am 19. Januar 2011 um 12:30 Uhr
Welche Prägung meinst Du?
Am 19. Januar 2011 um 22:07 Uhr
Die Erfahrung mit dem Lehrer für den Bar-Mitzwa-Unterricht.
Am 20. Januar 2011 um 00:18 Uhr
Ich denke, Ed Rosen wird diese Frage noch »ventilieren« :-)
Am 20. Januar 2011 um 10:46 Uhr
[…] daran zu erinnern. Wie sehr ich mich im Laufe der Jahre auch gesträubt haben mag gegen die Sheol-Geschichte meines Bar-Mitzwa-Lehrers, ich werde sie doch nicht los. Allen inneren Widerständen zum Trotz spukt sie mir beharrlich […]