Erscheinungen

17. Januar 2011

Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe. Und nun dieser Huf… Am Fußende lugt er im Dunkel unter der Bettdecke hervor. Das ist mir nicht geheuer. Ohne hinzusehen, decke ich ihn zu, lasse meinen Kopf zurück ins Kissen sinken und schließe die Augen wie ein Kind, das denkt, was es nicht sieht, sei nicht da. Das beruhigt mich. Dabei müsste ich wissen, dass es ein böses Omen ist.

Ich bin kein Narr. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose und doch dem einen Blume, dem nächsten Wappen, einem dritten Duft und einem anderen nichts als Dorn. So viel habe ich bei Matana gelernt: Ein Zeichen ist zunächst nichts anderes als ein Zeichen, ein Hinweis, ein Wegweiser, nicht identisch mit dem, worauf es zeigt. Das Zeichen selbst ist unschuldig. Von sich aus bedeutet es nichts, und es gibt keinen Grund, sich zu echauffieren, nur weil man es sieht.

Omen, Fügung, Schicksal… Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin ein Spezialist für Zeichen. Jedenfalls halte ich mich dafür, denn ich habe früh begonnen, nach Zeichen zu suchen, Zeichen zu entdecken, Zeichen zu deuten. Es begann mit Wenn-Dann-Wetten: Wenn das Auto an der nächsten Straßenecke nach links abbiegt, werde ich das Eis bekommen. Fährt es nach rechts, dann nicht. Und wenn es geradeaus fährt, wartet etwas ungleich Verlockenderes auf mich. Ich muss nur Geduld haben. Und dann leuchtete gelb das Blinklicht am Heck des Wagens – rechts, und meine Hoffnungen waren begraben.

Vom Blinklicht am Auto wechselte der Blick zum Blinken am Himmel. Die Sterne würden doch sicher sprechen. Wenn ich am frühen Vormittag aus der Schule kam, schaltete ich den Fernseher ein, zappte zum »Täglichen Horoskop« und wartete gespannt, bis mein Sternzeichen genannt und die astrologischen Aussichten bekanntgegeben wurden. Der Sendezeitpunkt hatte den Vorteil, dass die Hälfte des Tages bereits vorüber war. Bestätigte das bereits Geschehene die Astrologie, konnte das nur heißen, dass das noch nicht Eingetretene sich noch ereignen würde. Fand sich im Horoskop kein Zusammenhang mit dem Tag, wie ich ihn bis dahin erlebt hatte, stand mir gar noch alles bevor, als hätte mein Tag noch nicht einmal wirklich begonnen. Was für ein Bangen, oh, die verheißenen Freuden und Leiden und Unentschiedenheiten… Irren konnten die Sterne doch nicht. Noch heute, also immerhin 25 Jahre später, kann ich keine Zeitschrift aufschlagen, ohne zuerst im Inhaltsverzeichnis nach dem Horoskop zu suchen. Wenn es eines gibt, und ich bevorzuge Zeitschriften, die auf eine solche Rubrik nicht verzichten, kann ich nicht anders, als umgehend diese Seite aufzuschlagen und mich unterrichten zu lassen, was zu erwarten steht. Geld, Job, Liebe, all die Möglichkeiten, gelegentlich sogar, wenn die Zeitschrift etwas taugt, grafisch aufbereitet in Form von seichten Wellenlinien, Phasen der Ruhe, Höhenflüge, und selbst aus den Mustern der sich umschlingenden Linien, aus den Schnitt- und Umkehrpunkten der Kurven lässt sich noch lernen, wohin der nächste Moment sich neigen mag.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

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