Bei Tucholsky gefunden

21. Dezember 2010

Es ist nicht wahr, daß die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht.

Kurt Tucholsky, aus einem Brief an Arnold Zweig

Tucholsky-Briefmarke der DDR••• Auch die Abkehr vom Judentum (1914) und schließlich die protestantische Taufe (1918) verhinderten nicht, dass Juden wie Nichtjuden Tucholsky zeit seines Lebens als Juden betrachteten. Die einen schmähten ihn als Nestbeschmutzer, die anderen als schlimmen jüdischen Zersetzer. In seinem letzten Brief, kurz vor seinem Tod (1935) an den in Palästina lebenden Arnold Zweig gerichtet, widmet sich Tucholsky nochmals ausführlich der Situation des deutschen Judentums. Seine Bestandsaufnahme gipfelt in obigem Satz. Und Recht hat er, wie sehr sogar.

Wenn ich in Israel bin – und das werde ich ja bald wieder sein – bin ich unschwer als Jecke auszumachen. Es lässt sich ja nun auch ganz einfach nicht leugnen, wo ich herkomme. Aber auch bei diesem Israel-Besuch werde ich mit Vorliebe sefardische Synagogen besuchen und ganz sicher um die an einer Hand abzuzählenden Jeckes-Hochburgen einen Bogen machen. Denn kaum etwas in unserer Gemeinschaft ist mir so unangenehm und verdächtig wie Restaurationsbemühungen des »deutschen Ritus«. Hinter dem Unbehagen steckt nur eines: in diesem Ritus wie in der Denkweise ist das miefige deutsche Kaiserreich konserviert. Die Musik steckt voll Marschrhythmen und Tschingderassassa. Und die vehementesten Verfechter der Wiederbelebung machen nicht einmal einen Hehl aus ihrer nostalgischen Verehrung u.a. für die beinahe zerfallenen Gebetbücher, in denen man noch inbrünstige Gebetstexte für das deutsche Kaiserreich und die Herrscherfamilie finden kann.

Ich bin mit Marschmusik groß geworden, und ich kann sie schlichtweg nicht ausstehen. Alles Militärische ist mir ein Graus, und Despoten, gleich welcher Couleur, kann ich nicht das geringste abgewinnen. Wenn ich ans Kaiserreich denke, sehe ich nichts als den natürlichen unmittelbaren Vorläufer des Dritten Reiches.

Ich übertreibe? Nein. Wie degoutant ist es bitte, wenn noch heute jährlich auf dem jüdischen Friedhof in München eine Art Zapfenstreich zelebriert wird mit Links-um! und Richt-euch! und Augen-geradeaus! für die jüdischen Gefallenen des 1. Weltkrieges? Nichts gegen Gedenken. Aber wenn ich Soldaten auf Friedhöfen exzerzieren sehe, wird mir schlecht.

Wo findet man heute noch Deutsche, die Traditionen des Kaiserreichs pflegen würden? Zumindest in einer Anzahl deutscher Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen in Deutschland! Wer hätte das gedacht?

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