Die Lesebühne im »Dubrovnik«, Helsinki
••• Eine Reise war das schon, was wir gestern am Abend unternommen haben. Wir sind zwar nicht wirklich bis nach Dubrovnik gekommen. »Dubrovnik« aber heißt die Bar, in der gestern die erste Lesung unserer Finnlandtour stattfand, und es war eine Reise in drei sehr unterschiedliche Gegenden der literarischen Topographie.
Gegen 18:00 Uhr war zum Empfang geladen für Presse- und Verlagsleute. Da ging es noch übersichtlich zu im Untergeschoss des »Dubrovnik«, das früher einmal ein Kino und – Insider-Informationen zufolge – Aki Kaurismäkis inoffizielles Büro, wenn nicht gar erweitertes Wohnzimmer gewesen ist. Gegen 19:00 wurde es dann eng. Da atmeten die Veranstalter auf. Denn es ist so, dass Prosa-Lesungen in Finnland völlig unüblich sind. Lesungen gaben hier bis vor wenigen Jahren nur die Lyriker, und Veranstaltungen mit Romanautoren hatten eher den Charakter von öffentlichen Live-Interviews denn von Lesungen.
So, sagten sich vor einiger Zeit ein paar agile Prosafreunde, könne es doch nicht bleiben. Sie gründeten den Prosa-Club »Prosak«, der seither regelmäßig im »Dubrovnik« gastiert, um den Finnen auch den Charme von Prosa-Lesungen nahezubringen. Und gestern nun wurden im »Prosak«-Programm gleich drei deutsche Autoren mit ihren aktuellen Büchern vorgestellt: David Wagner, Judith Schalansky und Hanna Lemke.
Lutz Seiler (Mitte rechts) an der Bar des »Dubrovnik«
An der Abendkasse lagen die druckfrischen Exemplare der »Saksen«-Ausgabe von »Nuori Voima«, und der Saal war schließlich voll, als Chefredakteur Martti-Tapio Kuuskoski den Abend eröffnete. Er übergab an Stefan Moster, der moderierte und simultan übersetzte. Die Autoren wurden nacheinander auf die Bühne gebeten, jeweils für etwa 30 Minuten, lasen zunächst ein paar Sätze aus den Originalen, wurden von Stefan Moster interviewt und lauschten dann gemeinsam mit dem Publikum der Lesung der ins Finnische übersetzen Texte, die von finnischen Autorinnen gelesen wurden.
David Wagner und die finnische Autorin Marjo Niemi
David Wagner stellte seinen in Deutschland viel und wohlwollend besprochenen Roman »Vier Äpfel« vor, ein Text mit erstaunlicher Beobachtungsschärfe und sprachlicher Feinheit, die ich nicht unbedingt erwartet hatte angesichts des Handlungsortes. Der nämlich ist ein Supermarkt, in dem der Erzähler u.a. die besagten »Vier Äpfel« kauft, sich zwischen den Regalen verliert und schließlich wieder findet. Die finnische Übersetzung von Helen Moster wurde gelesen von Marjo Niemi.
Ein Highlight des Abends mit Zauberkraft war für mich der Auftritt von Judith Schalansky. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt jemanden so gewinnend habe lächeln sehen. Ein Lächeln hilft ja nur über die ersten Augenblicke. Ebenso gewinnend aber präsentierte Judith im Gespräch ihre literarische Arbeit, der sie mit einer Art heiligem Eifer nachzugehen scheint. Nicht von ungefähr fiel im Gespräch mehrfach das Wort »obsessiv«. Hier ist eine sympathische Perfektionistin am Werk, wie man wohl am besten an ihrem neuesten, sehr erfolgreichen »Atlas der abgelegenen Inseln« sehen kann. In diesem Buch versammelt sie »50 Geschichten über Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde«.
Judith Schalansky im Gespräch mit Stefan Moster
Das Buch ist tatsächlich ein Atlas. Jeder Geschichte gehen topographische und Entfernungsangaben voraus. Auf den linken Seiten steht jeweils die Geschichte, auf den rechten eine Karte der jeweiligen Insel. Gestaltet hat sie das Buch – ganz Perfektionistin – selbst. Die Geschichten, berichtete Judith, habe sie nicht etwa erfunden, sondern gefunden, neu erzählt und so in Besitz genommen, da die Inseln selbst ja schon entdeckt waren. Mit den Mitteln der Literatur kann man eben auf Reisen gehen und Besitzverhältnisse verschieben, ohne das Zimmer verlassen zu müssen. Dass bei diesem Buch nichts dem Zufall überlassen ist, beweist Judiths Hinweis, sie habe mit der Geschichte über die Osterinsel begonnen. Diese nämlich sei das größte der wiedererzählten Eilande und habe den Maßstab der Karten vorgegeben, der bei allen Karten im Buch der gleiche ist…
Gelesen wurde schließlich jedoch aus Judiths »Matrosenroman« mit dem Titel »Blau steht dir nicht«. Die Übersetzung von Tiina Hakala wurde im Anschluss einhellig gelobt. Gelesen wurde sie von Laura Lindstedt, der Ehefrau und eifrigen Mitstreiterin von Martti-Tapio bei »Nuori Voima«.
Auch in »Blau steht dir nicht« geht es übrigens um eine Obession, nämlich die für Matrosenanzüge und Matrosen – echte Matrosen wie (vor allem?) unechte. Wer mehr wissen will, muss selbst lesen. Am besten sofort.
Hanna Lemke und die finnische Autorin Katja Kettu
Wie anders man »Schreibarbeit« auch sehen kann, erfuhr man aus dem anschließenden Gespräch mit Hanna Lemke. Ihr Metier ist die in Deutschland leider unterrepräsentierte short story. Achtzehn davon sind in ihrem Debütband mit dem irreführenden Titel »Gesichertes« letzten März bei Antje Kunstmann erschienen. Irreführend ist der Titel, weil für die Figuren in Hannas stories nur eines gesichert ist, der permanente Schwebezustand Unsicherheit, den die erzählten Figuren durch geschickte Konflikt- und Entscheidungsverweigerung aufrechtzuerhalten versuchen. Davon aber später mehr, wenn ich von der Lesung berichte, die ich heute gemeinsam mit Hanna Lemke in der deutschen Schule von Helsinki bestreiten durfte.
Die Übersetzung, besorgt von Olli Sarrivaara, wurde gelesen von der finnischen Autorin Katja Kettu.
Ein gelungener Abend, prallvoll mit Eindrücken war das. Mehr wäre kaum zu verarbeiten gewesen. Und tatsächlich ging man, was für Literaten doch unüblich ist nach solchen Abenden, bald auseinander und ins Hotel. So bin ich immerhin noch zum Berichten gekommen und dennoch auch zu etwas Schlaf.
Am 15. September 2010 um 15:06 Uhr
[…] Gestern im »Dubrovnik« hat Hanna einen schönen Satz gesagt, der ihre Prosa, wie ich meine, sehr gut beschreibt. Sie halte sich bewusst an der Gestaltung von Oberflächen auf, immer im Bemühen, dabei nicht oberflächlich zu sein. Stefan Moster musste einmal kräftig durchatmen, bevor der diese Antwort geschickt ins Finnische schlenzen konnte. Der Reaktion des Publikums nach zu urteilen, ist ihm das gelungen. […]