Einwanderer (III)

26. August 2010

Lanzarote, Puerto del Carmen - Foto: © Kerstin S. Klein
Lanzarote, Puerto del Carmen – Foto: © Kerstin S. Klein

Bei dieser Einwandererdichte auf Lanzarote hätte es also gut sein können, dass eine Masseurin aus Köln oder ein Masseur aus Manchester vor meinem Bungalow auftaucht. Aber so kam es nicht. Pünktlich eine Minute vor der vereinbarten Zeit ratterte etwas über den kieselgepflasterten Weg der Bungalowanlage. Ich ging zur Tür und sah einen sehr großen, schlaksigen Mann in weißer Pflegerkleidung und Flipflops, der auf Rollen etwas hinter sich her zog, das wie ein zu schmal geratener Schrankkoffer aussah, hochkant in ein Rollengestell geklemmt. Der böige Wind drohte auf dem kurzen Weg mehrmals, den Koffer umzuwerfen, so dass der Masseur die letzten Meter rückwärts gehen musste, mit einer Hand ziehend, mit der anderen den mysteriösen Schrankkoffer aufrecht haltend.

Nein, dachte ich, das ist weder eine Monika aus Köln noch ein Pete aus Manchester. Der Masseur hatte eher etwas Indianisches an sich. Ich tippte auf Mexico, jedenfalls Südamerika. Er war allerdings sehr groß, beinahe zwei Meter, hager bis in die markanten Züge seines gebräunten Gesichts und wirkte sanft, zurückhaltend, wenn nicht gar ein wenig gehemmt. Er reichte mir seine schmale Rechte zu einem bestimmten, aber nicht zu festen Händedruck.

»Hola«, grüßte ich. Dann fiel ich ins Englische, denn erstens spreche ich, was man neurotisch nennen mag, im Ausland ungern Deutsch; und die Wahrheit ist, dass ich zweitens und peinlicher Weise auch nach Jahren mehrwöchiger Sommerurlaube in Spanien (bzw. ehemals spanischen Kolonien) nur eine Handvoll spanischer Wörter beherrsche. Nie und nimmer würde es für eine Konversation reichen.

»Was«, fragte ich und zeigte auf den vermeintlichen Schrankkoffer, »ist das?«

»Die Liege«, antwortete der Masseur, ebenfalls auf Englisch mit jedenfalls unbritischer Klangfarbe.

»Really?«

»Aber ja«, sagte er und machte sich, nicht ohne Stolz, daran, die mitgebrachte, transportable Massagebank auszupacken. Sie steckte in einem Lederfutteral, eine zweifach faltbare Bank aus leichten Fichtenholzbrettern, einseitig dünn gepolstert und mit schwarzem Kunstleder bezogen. Am Kopf- und Fußende ließen sich zwei weitere Bretter im rechten Winkel ausklappen und mit Alustreben als Stützen fixieren. Ich entdeckte die übliche ovale Aussparung am Kopfende der Liege, in die man das Gesicht versenken kann, um bequem auf dem Bauch liegen zu können. Aufgestellt hatte die Bank die optimale Höhe für den indianischen Riesen, so dass ich mich unwillkürlich fragte, ob das transportable Möbel eine Maßanfertigung sei. Aber es war mir unangenehm, danach zu fragen.

»Benjamin«, stellte ich mich, etwas verspätet, vor.

»Carlos«, antwortete er und drückte mir noch einmal die Hand. Dann musterte er mich von Kopf bis Fuß und fragte, um was für Beschwerden es sich denn handele.

»Oh«, sagte ich: »Keine Beschwerden.« Es gehe mir nur ums Wohlbefinden, und ich hätte eigentlich eine Fußreflexzonenmassage bestellt.

Kaum merklich runzelte Carlos die Stirn. Meine Füße, sagte er, seien doch scheinbar in guter Verfassung. »Wir sollten uns«, meinte er, »eher um die Beine kümmern; und die Schultern, herrje die Schultern, die seien ja wohl ›a nightmare‹…« Dabei schaute er auf meinen offenbaren Rundrücken, missbilligend, wie mir schien, als wäre ihm unerklärlich, wie man eine solche Haltung auf Dauer aushalten könne.

Das fand ich nicht eben freundlich, was mir wohl anzusehen war, denn er lächelte umgehend und willigte ein: »Also gut, die Füße. – Und die Beine«, setzte er aber hinzu: »Lay down, and we will see…«

Unterdessen hatten sich meine Frau und die Kinder zum Baden fertiggemacht. Glänzend von Sonnenmilch und mit Schwimmflügeln, Taucherbrille, Luftmatratze und Handtüchern bewaffnet standen sie in der Tür, als ich mich gerade meiner Shorts entledigen wollte.

»Aber Papa!«, rief meine Tochter entsetzt: »Der Masseur darf doch nicht Deinen Zipfel sehen!«

Carlos sah diskret zur Seite, obgleich ich doch annahm, er würde nicht verstanden haben, was sie gesagt hatte.

»Nein«, versuchte ich, meine Tochter zu beruhigen: »So ist das eigentlich nicht gedacht bei einer Massage.« Und ich zeigte auf meine baywatchrote Badehose, die ich schließlich immer noch trug; aber ich war mir nicht sicher, ob sie mir glaubte, dass ich wirklich die ganze Wahrheit über den Ablauf einer Massage enthüllt hatte. Jedenfalls redete sie, während die drei zum Pool abzogen, weiter auf meine Frau ein, und die lachte und streichelte ihr über den Kopf. Ich mochte lieber nicht wissen, welche Sorgen sich meine Tochter noch so machte. Jedenfalls war ich nun mit Carlos allein und legte mich, seinen knappen Anweisungen folgend, rücklings auf die transportable Liege.

Es stellte sich schnell heraus, dass Carlos tatsächlich kein gewöhnlicher Wellness-Masseur, sondern ausgebildeter Osteopath war. Er untersuchte zunächst meine Füße, das heißt, er tastete sie ab, bewegte die Gelenke, streckte die Zehen und strich mit festem Druck am Innenrist entlang.

»As I said«, stellte er fest: »Your feet are fit.«

Dann bat er, ich solle mich auf den Bauch drehen, damit er meine Beine untersuchen könne. Carlos strich mit den Fingerkuppen über Waden und Oberschenkel, presste gelegentlich fest mit dem Daumen auf einen Muskel und fragte: »Tut das weh?« Ich meinte erst, er scherze, bis er schließlich Muskelgruppen in meinen Beinen aufspürte, deren Existenz mir nicht einmal bewusst gewesen war und die, sobald er seine Finger darauf presste, heftig schmerzten. Also war das Wohlbefinden bei den zurückliegenden Fußmassagen nicht weit genug aufgestiegen, und Carlos hatte Recht: Meine Beine verdienten mehr Aufmerksamkeit. Bei den Schmerzen, den mir seine Akupressur-Untersuchung beschert hatte, wagte ich gar nicht, mir auszumalen, was ich hätte ausstehen müssen, wenn er sich um meine Schulterpartie bemüht hätte.

Zu meiner großen Überraschung knetete Carlos die verspannten Muskeln nicht etwa, sondern löste die Verspannungen mit einigen pressenden Handgriffen und Dehnungsübungen. Dabei erklärte er mir, welche Auswirkungen die Verkürzung verspannter Muskeln auf Gelenke und innere Organe haben könne. Ich fühlte mich bestens aufgehoben.

Während Carlos auf die andere Seite der Liege wechselte, um sich auch meinem anderen Bein widmen zu können, stellte ich die in einem Urlaubshotel wohl naheliegendste Smalltalk-Frage: »Where do you come from?«

»Argentina«, antwortete er und erzählte, dass sein Großvater 1919 von Lanzarote nach Argentinien ausgewandert sei. Vor zehn Jahren sei er, Carlos, wieder zurückgekehrt, um auf der Heimatinsel seiner Großeltern eine Familie zu gründen. Das fand ich spannend. Ich stellte mir die dramatische Überfahrt des Großvaters nach Südamerika vor und dass er eine Mestizin geheiratet hätte – daher das indianische Etwas in Carlos‘ Gesicht! – und wie Carlos dann, der alten Heimat wieder zu ihrem Recht verhelfend, zwei Generationen später den Rückweg angetreten hatte. Ein »Isleño« (wie die kanarischen Einwanderer in Südamerika genannt wurden) war wieder zum »Canario« geworden, einem Einheimischen.

»And you?«, fragte Carlos zurück. Also hatte er, stellte ich erleichtert fest, nicht bemerkt, dass meine Tochter Deutsch gesprochen hatte, geschweige denn, dass er hätte verstehen können, worüber sie so aufgebracht gewesen war.

»Germany«, antwortete ich. Da hielt Carlos inne.

»Really?«, fragte er, und ich hätte dieses ›really?‹ nicht einzuordnen gewusst, wäre er nicht ohne Übergang ins Erzählen gekommen. In Argentinien, erfuhr ich, sei er in einem Ort aufgewachsen, in dem vorwiegend Deutsche lebten, Einwanderer. Er sei auf die deutsche Schule gegangen, weil sie die beste am Ort gewesen sei und hätte Deutsch gelernt.

»Nein!«, durchfuhr es mich: Also hatte er womöglich doch…

»Ich erinnere mich noch«, fuhr er in stockendem, aber fehlerfreien Deutsch fort, »Ich erinnere mich an die Namen meiner Mitschüler: Gert, Susanne, Kurt, Heinz… Ich war als Jugendlicher in eine Christina verliebt, eine Schönheit mit blonden Zöpfen. Aber es wurde nichts daraus. Das waren ganz feine Leute, die Deutschen. Sie waren so stolz auf ihre Sprache und ihre Kultur.«

Ich wagte nicht, Carlos anzusehen. »Am Brunnen vor dem Tore…«, begann er zu summen und lockerte entgegenkommend den dehnenden Druck auf meinen Oberschenkel, als wolle er mir Gelegenheit geben, in das Lied einzustimmen. Aber mir war nicht nach Singen.

»Wann«, fragte ich, während ich von der Liege aufstand, um mich wieder anzuziehen: »Wann sind diese Deutschen denn nach Argentinien gekommen?«

Carlos hielt inne, und dann begann er, seine Wunderliege wieder zum Schrankkoffer zusammenzufalten, als müsse er genau überlegen, was er antworten sollte. Er zögerte so lange, dass ich schon bedauerte, überhaupt gefragt und ihn, was offenbar geschehen war, damit aus seinen nostalgischen Erinnerungen gerissen zu haben.

»Well«, sagte er schließlich, und obgleich er noch eben so bemüht gewesen war, blitzblankes Deutsch zu sprechen, antwortete er auf Englisch: »Most of them had come right after the war.«

© Benjamin Stein (2010)

Lanzarote, Puerto del Carmen - Foto: © Kerstin S. Klein
Lanzarote, Puerto del Carmen – Foto: © Kerstin S. Klein

5 Reaktionen zu “Einwanderer (III)”

  1. mary

    Hallo Benjamin,

    meine Empfehlung: wenn möglich, auch den Rücken behandeln lassen. Du wirst es nicht bereuen und dich wundern, wie gut es z.B. danach auch deinem Kopf geht. (eigene Erfahrung mit „dt. manueller Therapie“) :-)

    … und vielen lieben Dank und Grüsse an die Kids und Kerstin. Karten sind angekommen.:-))

    Weiter schönen Urlaub.

  2. Martin

    Oh Mann. Wie es wohl sein mag, so eine Siedlung zu besuchen? Wie bei denen wohl das Dorffest aussieht? Autsch.

    In der Wirtschaft meiner Oma kam es in den 50ern auch zu „bemerkenswerten“ Begegnungen: Man war gemeinsam in Dachau, man hatte zu dieser Zeit Uniform getragen, aber … nun, nicht die gleiche…

  3. Perdita

    hmmmm, da bekommt man lust auf luftveränderung und massagen. Aber Aaliyah hat schon recht, denn massagen mit „happy end“ oder „happy finish“ sind ja doch recht beliebt

  4. ksklein

    Hübsche Geschichte *bwuahaha *brüll *kaputtlach

    Sorry, konnte nicht widerstehen.

    @Perdi: ja, die gibt es massig hier. Aber die Flyer schauen etwas anders aus. Und auch die Namen. :)

  5. Dorit

    Lieber Benjamin,
    das sind ja Geschichten, Geschichte und Schicksale (Fortsetzung II + III).

    Da würde ja wahrscheinlich selbst die „erbarmungslose“ spanische Sonne (und nicht nur die) am liebsten mal ihr Licht ausgemacht haben, bei so viel Expansionswillen, Machtmißbrauch, daraus folgenden Beschädigungen und Leid etc.

    Tja, aber nicht auswandern, das war eben auch keine Lösung, wies aussieht. Und für Carlos scheints ja mit dem Einwandern wieder „gut“ geworden zu sein, mit gesichertem Einkommen und Lebensstellung, oder…?

    Danke also für Fortsetzung II + III,
    Dorit

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