Bibel und Koran (II)

28. Juni 2010

Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll

Textstruktur und –konsistenz

Der Koran ist ein Monolog. Er besteht aus 114 Suren oder Gesängen in Versform. Es gibt nur einen einzigen Sprecher, den Propheten Mohamed, der die göttliche Wahrheit zu besitzen erklärt und sie einem schweigenden Publikum mitteilt. Der Koran unterscheidet sich daher generell von der Bibel, die viele literarische Formen, zahlreiche Sprecher und immer andere Erzählweisen kennt.

Die biblischen Darstellungsweisen betonen, schon durch ihre textliche Struktur, den Dialog, die Interaktion zwischen verschiedenen Größen. Zunächst zwischen der erschaffenden Urkraft elohim und der zu gestaltenden Materie, dann zwischen den Menschen und ihrem Schöpfer, den Juden und ihrem Gott, später, auch in den Evangelien, von Juden untereinander. Es ist sozusagen das dualistische Prinzip des Monotheismus. Denn Monotheismus ist nicht zwangsläufig Monismus: immer wieder in der Bibel ist das Aufweisen und Überwinden von Widersprüchen – bis hin zum offenen Streitgespräch – die vorgeführte Methode der Erkenntnis- und Wahrheitssuche, in den Mosaischen Büchern, bei den Propheten, im Buch Hiob, im Kohelet, in der Sammlung der Sprüche oder in den zahlreichen Debatten des Neuen Testaments. Wegen dieser ungleich komplizierteren Textstruktur ist die Bibel das mit weitaus mehr Mühe zu rezipierende der beiden Werke.

Aus Judäa vertriebene Juden lebten in Mohameds Tagen seit rund einem Jahrtausend in Babylonien, arbeiteten dort, hielten die in der Bibel gebotenen Gesetze, studierten und lehrten. Zudem gab es zahlreiche christliche Gemeinden in der Region, die großen Städte waren oft Bischofssitze. Viele Beduinen der arabischen Halbinsel gerieten unter den Einfluss der Bibel. Unter dem Namen allah, abgeleitet vom alten hebräischen Gottesnamen al(23), wurde ein alleiniger, allvermögender Ein-Gott angebetet, ein Welterzeuger und Weltgebieter. Um 610 begann auch Mohamed, ein Sohn des Beduinenstammes Koresh, öffentlich als Prediger für diesen Gott zu wirken.

Lassen wir die Angabe des Hadith, er sei Analphabet gewesen, einmal dahingestellt, so ist zumindest unzweifelhaft, dass sein Publikum zum größten Teil analphabetisch war. Mohamed erwies sich als begnadeter Multiplikator in einer vorwiegend auf mündliche Weitergabe angewiesenen Umgebung, als Poet, Erzähler, Verdichter komplizierter Zusammenhänge zu kurzen prägnanten Sprachformeln – die entscheidende Begabung, um eine ganz auf orale Rezeption angewiesene Zuhörerschaft zu gewinnen. Ein für öffentliche Deklamation und akustische Aufnahme bestimmter Text muss sich, um wirksam zu sein, in Struktur, Wortwahl und Diktion von einem für stille Lektüre geschriebenen unterscheiden. In der Umsetzung des in der Bibel geschriebenen in einen gesprochenen Text lag auch eine entscheidende inhaltliche Transformation.

Der sprechend Repetierende und Nacherzählende kleidete biblisches Gedankengut in Geschichten, Gleichnisse, poetische Bilder, und er tat es vor allem unter dem Gesichtspunkt, sie beim ersten Zuhören verständlich zu machen. Anders als die Rabbiner oder christlichen Priester konnte er bei seinen Rezipienten kaum Vorkenntnisse der biblischen Texte voraussetzen, er musste diese, wo zum Verständnis unerlässlich, gleichsam miterzählen, wodurch sich der Text seiner Predigten nicht selten auf mehreren Ebenen zugleich bewegt, zwischen denen die sprechende Stimme – nicht selten unvermittelt – hin- und herspringt.

So erzählt er in Sure 20 die Geschichte von Moses, von der Eröffnung am brennenden Dornbusch bis zum Auszug aus Ägypten, eine gewaltige Stoffmenge, für die der hebräische Originaltext mehr als dreizehn Kapitel, mehr als ein Viertel des zweiten Buches Mose, braucht(24). In Mohammeds Version umfasst die Geschichte kaum siebzig Verse. In dieser komprimierten Nacherzählung bringt er noch eigene Interpretation unter, auch ferner liegende topoi, etwa Seelenwanderung (Vers 58), oder führt spätere Termini ein (wie das jüdische Konzept der gehena, Vers 75-80, eine talmudische Bezeichnung für Unterwelt oder Hölle, deren Verwendung Mohameds Kenntnis rabbinischer Literatur belegt).

Mohameds Vortragsstil poetischer Verdichtung und Verkürzung, durch welchen Zusammenhang und Informationsgehalt des Textes Einbuße erlitten, mag Widerspruch von Seiten jüdischer und christlicher Schriftgelehrter ausgelöst haben, was zwischen ihm und diesen einen Bruch hervorrief und allmählich vertiefte. Langwierige, in den Mosaischen Büchern ausführlich abgehandelte Gesetzestexte offerierte er als formelhaftes Konzentrat. So werden in Sure 4 des Koran unter dem Titel »Frauen« die in den mosaischen Büchern über mehrere Dutzend Seiten ausführlich behandelten Gebote für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in nur wenigen radikal verdichteten Strophen zusammengefasst. Aus solcher Verdichtung ergibt sich jedoch ein wirksamer Nebeneffekt für den mündlichen Vortrag: sie trifft den Hörer bei öffentlichem Lesen mit einer fast benommen machenden Eindrücklichkeit und sprachlichen Wucht.

Sure 4, »Frauen«, zeigt, wie der inspirierte Prediger Mohammed die oft schwierigen Gegebenheiten – vor allem das beschränkte Verständnis seiner schriftunkundigen Zuhörerschaft – nicht als Behinderung, sondern als Herausforderung zur Entwicklung wirksamer Vermittlungstechniken verstand. Man liest Mohammeds Predigten bis heute mit nicht nachlassender Faszination. Ihre Zusammenfassung in Buchform – um 653 auf Geheiß des Kalifen Othman – führte zu einem hochgradig komprimierten, leidenschaftlich poetischen Text. Sein auffälligstes, auf den ersten Blick sichtbares Merkmal ist das auch aus dem biblischen Text bekannte leitmotivische, nicht selten rhythmische Wiederholen suggestiver Wortgruppen und Metaphern(25). Diese Wiederholungstechnik hat sowohl textkompositorische als auch Gemeinsamkeit stiftende Wirkung, indem sie den Textkörper schon auf den ersten Blick unterteilt oder gliedert, zudem in gewissen Abständen daran erinnert, dass Autor und Leser beziehungsweise Sprecher und Hörer ex compositio ein gemeinsames Anliegen zusammenführt.

Anders als die meisten biblischen Bücher ist Mohameds Textkörper im arabischen Original in einer »Quasi-Vers-Form« gehalten, »in einem ungehinderten und irregulären Fluss der Zeilen«(26). Das Werk, das später durch Niederschreiben der gesprochenen Predigten entstand, heißt Koran, »das zu Lesende«, eine Wortbildung, deren Nähe zum biblischen Wort für lesen oder ausrufen, dem hebräisch-aramäischen kara (kuf-resh-alef) offensichtlich ist. Im Wesentlichen übernahm Mohamed die gesetzlichen Forderungen seines Koran den Fünf Büchern Mose. Doch je ausführlicher er seine Lehre ausarbeitete, je mehr Material er folglich der Bibel entnahm, um so größer wurden auch seine Abweichungen. Sei es, dass ein beträchtlicher Teil der von den Rabbinern exegetisch aus dem Text ermittelten Gebote (hebräisch mizvot) Mohammeds Publikum und Anhängerschaft schwer zu vermitteln war – schon weil es sich um nomadisch lebende Wüstenbewohner handelte, die nicht lesen, mithin die Lehre nicht selbst studieren konnten –, sei es, dass Mohammed Einzelheiten im Sinne besserer Deklamierbarkeit und Eingängigkeit für verzichtbar hielt: er reduzierte Gebote in sinnverändernder Weise. Er übernahm etwa das Verbot, vom Fleisch bestimmter Tiere zu essen (darunter des Schweins), nicht aber den allgemeinen Kontext der mosaischen Bücher über die Zubereitung von Speisen und das Behandeln von Lebensmitteln, das umfassende, in der Torah ausführlich ausgearbeitete und begründete System der Reinheitsgebote, die sogenannten kashrut.

Neben solcherart Vereinfachungen adaptierte er Elemente in seine Lehre, die mit jüdischen und christlichen Konzepten der Welt unvereinbar sind, etwa das Paradies als Ort des Sinnenrauschs und irdischer Vergnügungen, das generelle Verbot Wein zu trinken oder die sprachliche Suggestion seiner, Mohammeds, eigenen Gottnähe(27). Mohamed oder die Aufzeichner seiner Predigten fügten dem stets wiederholten Satz »Es gibt keinen Gott neben Allah« die stehende Formel hinzu »Und Mohammed ist sein Prophet«, eine Assoziation, die nahe legt, dass er der einzige, der endgültige sei.

Der Koran besteht aus Gesängen, deren Name sura oder sure auf den ersten Blick die Nähe zum biblischen Wort shira (Lied, Gesang, Gedicht) erkennen lässt. Ein großer Teil dieser Suren ist nichts anderes als die Wiedergabe biblischer Erzählungen, unterbrochen von didaktischen Hinweisen, Aufforderungen zur Andacht und leitmotivischen Erinnerungen an die lenkende Allmacht des »Gnadenreichen«, »Mitleidigen«, »Alleinigen« – Gottesattribute, die allesamt der Bibel entnommen sind(28). Von den Suren, die nichts anderes sind als Nacherzählungen biblischer Texte, sei Sure 12 erwähnt, eine Repetition der biblischen Josefs-Geschichte in Versform, vereinfacht für Zuhörer, die zum ersten Mal – und mündlich – mit ihren nicht immer leicht aufnehmbaren Wechselfällen konfrontiert werden sollen.

Eine Besonderheit von Mohammeds Vortrag mögen die krampfartigen Zustände gewesen sein, die ihn in visionärem Zustand befielen(29) und die von seinen Zuhörern in Ehrfurcht abgewartet wurden. Man wertete sie als Augenblicke der Inspiration, der höheren Beseeltheit, des Empfangens der Botschaft. Sie können einer der Gründe für den in manchen Suren auffallend abrupten, verwirrenden Wechsel des Themas, der Stimmung, des Erzähl-Duktus sein, für die oft erstaunlichen Abweichungen von einem »plausiblen« Erzählverlauf, die von den Augenzeugen als Zeichen göttlicher Inspiration betrachtet und in der späteren Niederschrift beibehalten wurden. Doch ohnehin gehört eine gewisse »Sprunghaftigkeit« (»the sudden change in style and subject-matter«) zu den Charakteristika alt-arabischer Poesie. Morris Seale sieht darin »Spuren nomadischer Mentalität« (»traces of nomadic mentality«). »Solche abrupten Übergänge sind typisch für die arabische Dichtung. Man findet in ein und demselben Gedicht die Beschreibung des Lieblingskamels (…) oder den schwelgerischen Lobpreis des Patrons unmittelbar gefolgt von pythischen Sprüchen oder Spruchweisheiten.«(30) Daher wirken die bereits aus der Bibel bekannte Geschichten, Erzählungen, Lebensläufe im Koran oft verblüffend andersartig.

»The Suras«, findet der englische Arabist Arthur J. Arberry, »are not arranged in any chronological order«(31). Durch das Fehlen der bekannten Chronologie und sinnvollen Anordnung könne beim europäischen Leser »perplexity« ausgelöst werden. Der Koran ist nach abendländischem Verständnis eindeutig ein Werk der Dichtkunst, eher inspirativ und irrational gewachsen als in absichtsvoller Systematik. »Der größte Dichter bist Du, oh großer Prophet von Mekka…«, schrieb Heinrich Heine. Einige Jahrzehnte später schildert ihn Rilke als Analphabeten und »innen verwirrten Kaufmann«(32).

Im Koran sind Zusammenhang schaffende Textmerkmale zahlreich, aber unstet vorhanden. Selbst die zuvor festgestellte Neigung zu Kürzung und Vereinfachung ist kein sicheres Merkmal und nicht durchgehend zu finden: ebenso gern wie der Verfasser manche Zusammenhänge bis zum Kaum-noch-Nachvollziehbaren komprimiert, dehnt er andere zu unerwarteter Breite aus. Das betrifft die schon erwähnte Schilderung eines versprochenen Paradieses in den Suren 55 und 76, wo alle Genüsse eines Lebens nach dem Tode in einer diesem Textwerk sonst unbekannten Übergenauigkeit aufgeführt sind, etwa »Sofas, in Brokat gefasst, von denen sich die Früchte des Gartens pflücken lassen«, »Mädchen, keusch die Augen niederschlagend, da kein Mann oder Dshin sie bisher berührt hat«, »Huris, abgeschieden in kühlen Pavillons«, »Rubine und Korallen«, »Fontänen rinnenden Wassers«, »Kristallkelche«, »grüne Kissen und betörende Schlummerecken«(33)

Ohnehin ist einer der am häufigsten erhobenen Einwände gegen Mohameds Botschaft – zumal in unseren Tagen – der unbestreitbare Tatbestand, dass ihre Adressaten, die mit »ihr« angeredeten Empfänger des Textes, ausschließlich Männer sind. Hier soll der Koran als literarischer Text interessieren, nicht als sexologisches Studienobjekt. Das Männerparadies des Koran, die »immerjungen Mädchen« und »Fontänen von Wasser«, sind Beleg für die stilistischen Mittel, mit denen der Text arbeitet und die im Lauf der Jahrhunderte in der abendländischen Literatur – in unzähligen Gedichten, Kunstmärchen, Romanen, Opern und Hollywood-Filmen – zu dauerhaften Stereotypen in Verbindung mit der arabischen Halbinsel erstarrt sind.

Außer dem didaktischen Mittel des Versprechens und der Verheißung benutzt der Koran noch andere: Warnung, Drohung, Ankündigung von Strafe. Einiges davon war Mohammed aus biblischen Texten bekannt, erfuhr jedoch in seinen Predigten eine deutliche Verschärfung. Das harte Nebeneinander sanft gewinnender und aggressiv-polemischer Passagen wurde zum stilistischen Prinzip, da der Koran ein Buch der Abgrenzung ist, der Verurteilung und Bestrafung derer, die sich zuvor der Botschaft als nicht würdig erwiesen haben, und der Belohnung derer, die dem Propheten zu folgen bereit sind. Die üppigen Darstellungen vom Paradies erweisen sich als notwendiger kompositorischer Ausgleich in einem Text, der auf dieser Welt vor allem eines fordert: absolute Unterwerfung. »Es ist ein Weg des Gehorsams«, schreibt Rosenzweig. »Das unterscheidet ihn, mehr als sein Inhalt, von der Liebe des Nächsten«(34). Sure 46, betitelt »Die Sanddünen«, erinnert zum wiederholten Mal an ein antikes Volk namens Ad, das zur Strafe für seinen Ungehorsam in der Wüste vertilgt wurde: »Da erblickten sie plötzlich eine Wolke von Staub sich dem Tal nähern, darin sie lebten…«(35)

Interessant ist die Verwendung von »Staub« als Metapher für Tod. Sie mag als Beispiel dafür dienen, wie der Text des Koran, obwohl inhaltlich von der hebräischen Bibel inspiriert, stilistisch und metaphorisch der Empfindungswelt seines Sprechers und seiner Rezipienten verhaftet bleibt, der von geborenen Wüstenbewohnern. Im Gebrauch elementarer Metaphern in beiden Texten – Bibel und Koran – zeigt sich in seltener Deutlichkeit, wie verschieden die Hebräer von ihren arabischen Nachbarn sind. Für das Volk der Bibel ist Wüste ein nur vorübergehend erfahrener Ort, während die Zuhörerschaft Mohameds aus der Wüste stammt, von ihr geprägt, ganz autochthones Wüstenvolk ist. Anders die Hebräer, die niemals ihre Herkunft aus der urbanen Hochkultur Mesopotamiens abstreifen konnten, selbst in der Wüste nicht: ihr Sinn blieb auch dort auf Organisation und Regulierung gerichtet, auf ein Gestalten und Urbarmachen, letztlich auf Rückkehr in eine aus früherer Zeit erinnerte landwirtschaftliche Gesellschaft. Niemals können sie in der Wüste jenes Unentrinnbare und Schicksalhafte sehen wie die alten nomadischen Wandervölker.

In der Metaphernsprache der Bibel ist somit auch »Staub« kein Symbol für Tod, vielmehr für sein Gegenstück: für irdisches Leben. Aus »Staub«, hebräisch afar, ist in der biblischen Schöpfungsgeschichte der Leib des Menschen gemacht(36). Man kann diese Substanz als Symbol irdischer Schwere verstehen, des Gebundenseins der unsterblichen Seele in ein materielles Gefäß, doch erst durch diese Einbindung in einen seine Flüchtigkeit hemmenden Körper aus »Staub« wird der Mensch der biblischen Schöpfung, der adam, auf dieser Erde lebensfähig. Das Verb jazar, das die hebräische Bibel für den Vorgang der Formung des »Staub-Menschen« verwendet, ist das selbe wie für Töpfern, eine der ältesten produktiven Leistungen des Menschen. Noch im zwanzigsten Jahrhundert empfindet der hebräische Dichter Jehuda Amichai Staub in diesem Sinn: »Dieser Staub ist wie wir«, heißt es in einem seiner Gedichte(37), und das »wir« meint irdisches, alltägliches Leben.

Hingegen ist »Staub« für die Völker der Wüste ein Schrecken erregendes, todbringendes Phänomen, schon durch die Mensch und Tier bedrohenden, jäh ausbrechenden Sandstürme. Strophe 23 der zitierten Sure 46 »Da erblickten sie plötzlich eine Wolke aus Staub…« bestätigt die Vermutung, dass ein Sandsturm für das apokalyptische Verschwinden des Volkes Ad als Metapher dient. Im Textwerk der fünf mosaischen Bücher finden wir ein solches Ereignis nirgendwo erwähnt. Ad ist ein uraltes aramäisches Wort, das so viel heißt wie Ewigkeit, ewiges Geschehen, in einer zweiten Bedeutung auch Raub oder Beute. Ein aus Mohameds Sicht ungehorsames Volk wird Beute des »Sandes«, einer aus der Wüste aufsteigenden tödlichen Kraft. Eine Metapher des Koran, mehrdeutig, erschreckend vor dem Hintergrund des Schicksals der Kopten, Nabatäer, christlichen Syrer, Juden und vieler anderer Völker, die dem gewaltigen Ansturm im Wege waren.

Auch diese Sure zeigt, dass wir es beim Koran mit einem Werk größter Ausdruckskraft zu tun haben, von eben jener Kraft, die nötig war, um seit Jahrhunderten durch die Wüste wandernde Beduinen zu beeindrucken, zu fesseln und zu gemeinsamer Aktion zu bewegen. Die expressionistische Ausprägung ist für sofortige Wirkung auf Zuhörer bestimmt, sie zeigt sich sowohl in Bildern paradiesischer Verheißung wie solchen angedrohter Strafe und Vernichtung.

In dieser letztgenannten Wirkung, der Erweckung von Gemeinsamkeit unter den seit Menschengedenken in blutigen Stammesfehden Verfeindeten, lag die große soziale Leistung des Koran. Dieses religiöse Poem ist ein Beispiel dafür, welche ungeheure Wirkung ein literarischer Text erlangen kann. Die von ihm stimulierten Glaubenskriege führten verstreut in der Wüste lebende Stämme unter dem Banner einer gemeinsamen Religion zusammen, mehr noch: hielten sie zusammen durch Jahrhunderte, bis ein Weltreich entstanden war, das von der arabischen Wüste bis nach Nordafrika, von Asien bis Westeuropa reichte, und dessen militante Wiedererweckung uns bis heute beunruhigt.

© Chaim Noll (2007)
wird fortgesetzt…

  • (23) vgl. Morris S.Seale, The Desert Bible. Nomadic Tribal Culture and Old Testament Interpretation, New York 1974, p.45: »The word al, variously translated as ‘high god’ or ‘yoke’, is the exact equivalent of the two cognate Arabic terms alu and ula (…) The same Hebrew word is found in verb form as alah, ‘to go up’, ‘to rise in rank or dignity’; it would mean the exact equivalent of the cognate Arabic.« Der Autor kommt auf p.201 nochmals auf diese hebräisch-arabische Sprachäquivalenz zurück.
  • (24) 2 Moses 12,1-25,11
  • (25) vgl.Chaim Noll, Die Sprache der Bibel, Mut, Asendorf, 11/1996
  • (26) vgl. Arthur J.Arberry, The Koran Interpreted, New York 1976, p.17: »The quasi-verse form with its unfettered and irregular rhythmic flow of the lines…«
  • (27) Aus Sicht des rabbinischen Judentums scheint es absurd, dass in der »kommenden Welt« ausgerechnet das getrieben werden sollte, was in dieser Welt für sündhaft oder gesetzeswidrig gilt wie der Beischlaf mit fremden Frauen. Allerdings ist die Authentizität der arabischen Version zweifelhaft, vgl. Fußnote (15). Hingegen ist das Trinken von Wein im Judentum bei bestimmten rituellen Anlässen geboten (Shabat, Feiertage).
  • (28) vgl. die sogenannten Dreizehn Attribute von Gottes Natur, 2 Moses 34, 5-7, vgl. Rabbi J.H.Hertz, The Pentateuch and Haftorahs, London 1992, pp.362, 364
  • (29) vgl. die Berichte von Zeitgenossen, vor allem der Witwe Aisha, in Maulana Muhamad Ali, Manual of Hadith, a.a.O., pp.3-15
  • (30) vgl. Morris S.Seale, The Desert Bible. Nomadic Tribal Culture and Old Testament Interpretation, New York, 1974, p.135
  • (31) vgl. Arthur J.Arberry, a.a.O., p.25. Er gibt als einen der Gründe hierfür an: «The Suras are (…) of a composite character, holding embedded in them fragments received at widely differing dates.«
  • (32) vgl. Minou Reeves, Pantheism, Heroism, Sensualism, Mysticism. Muhammad and Islam in German Literature from Goethe to Rilke, in R.Goerner (Hg.), Traces of Transcendency. Religious Motifs in German Literature and Thought, München 2001, pp.103-105
  • (33) Sure 56,12 ff; 55, 45ff.; 76, 12ff.
  • (34) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, a.a.O., S. 275. Rosenzweig sieht die Essenz der jüdischen wie christlichen Botschaft in 3 Moses 19,18: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«.
  • (35) Sure 46, 23
  • (36) 1 Moses 2,7
  • (37) Jehuda Amichai, Zeit, Frankfurt/M., 1998, S.47

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>