Bibel und Koran (I)

27. Juni 2010

Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll

»Um einander zu verstehen, müssen wir über
das sprechen, was uns unterscheidet.«(1)

Im Folgenden soll vergleichend von zwei Büchern die Rede sein, von zwei Textwerken und geistig-religiösen Konzepten, die durch das Hervorgehen des Einen aus dem Anderen eng miteinander verbunden sind. Die welthistorische, kulturprägende, zu gesellschaftlicher Aktion inspirierende, Krieg und Frieden evozierende Wirkung beider Texte ist ihre erste ins Auge springende Gemeinsamkeit, wobei in beiden Fällen, Bibel wie Koran, vorsorglich darauf hingewiesen werden muss, dass ein religionsstiftendes Buch, überhaupt ein ideell-religiöses Konzept, mit den Aktionen der Menschen, die sich darauf berufen, nicht identisch ist.

Richtiger wäre, von drei Büchern zu sprechen, denn die hebräische und die christliche Bibel sind bekanntermaßen nicht identisch. Doch da die christliche »Heilige Schrift« die gesamte jüdische Bibel, den hebräischen tanach, in einer von Juden angefertigten griechischen Übersetzung, der Septuaginta, ihrerseits kanonisiert und unter dem Namen »Altes Testament« in sich aufgenommen hat, ist aus christlich-europäischer Sicht die jüdische Bibel erklärtermaßen Bestandteil des eigenen Konzepts(2). Anders als der Koran hat das Christentum die ursprünglichen Bücher der Juden unverändert als religiöse Grundlage beibehalten, ihr Menschenbild, ihr Konzept von der Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer, ihren Moralkodex, das von Nietzsche verächtlich als »Sklavenmoral« verworfene Mitgefühl mit den Schwächeren, mit Frauen und Kindern, mit dem »Fremden, der in deinen Toren wohnt«, die Abschaffung der lebenslangen Sklaverei(3).

Europäische Aufklärung, Renaissance-Humanismus und bürgerliche Toleranz basieren auf diesem Menschenbild – ein Umstand, der dem Bewusstsein vieler Europäer entfallen ist. Irrtümlich halten viele Menschen unserer Tage Toleranz, Glaubens- und Meinungsfreiheit für Gegensätze zum biblischen Konzept, für mühsam in Aufklärung und bürgerlicher Revolution der religiösen Bevormundung abgetrotzte Freiheiten. Die Legende von der Originalität des aufgeklärten Denkens wurde fester Bestandteil der Identität des »modernen Europa«, und dies umso mehr, als die Kenntnis der eigentlichen Ursprünge allgemein abhanden kam. Erst jetzt, da die massenhaft gewordene Unkenntnis der religiösen und antiken Quellen einen spürbaren Rückfall ins Inhumane mit sich bringt, zugleich eine sichtbare Schwächung Europas bis hin zur Unfähigkeit, sich gegen aggressive Infragestellung von anderer Seite zu behaupten, wird die biblische Verwurzelung der modernen europäischen Werte wieder thematisiert.

Als Europäer stehen wir im Bann der berühmten Ring-Parabel, zuerst erzählt im »Decameron« des Boccaccio, später in Lessings Stück »Nathan der Weise«, welche die drei monotheistischen Konzepte Judentum, Christentum und Islam drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen vergleicht und in dieser Metapher die tiefen Gegensätze und Widersprüche zwischen ihnen zu relativieren sucht(4). Da sie alle drei einander zum Verwechseln ähnlich sind, so die Logik der Ring-Parabel, könne es sich bei den in ihrem Namen ausgefochtenen Kontroversen, Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse handeln, die durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.

Die Ring-Parabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, eines legendären Flüchtlings aus dem babylonischen Ur, wandernden Herdenfürsten und Propheten, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen(5). Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die »drei abrahamitischen Weltreligionen« zu bezeichnen und geistig-konzeptionell zu kategorisieren.

Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht und damit alle drei Religionen eines Gutteils ihres Charakters beraubt. Die Kategorie »drei abrahamitische Religionen« bedeutet eine Pluralisierung, damit auch relative Entwertung. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche sein. Und da keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche ist, kann sich der moderne Mensch getrost von ihnen abwenden und in einer neu-heidnischen, hedonistischen, unverbindlichen Spaß-Kultur sein Heil suchen. Unter dem Vorwand einer überlegenen Sicht auf die drei angeblich gleichwertigen – und gleichweise unzeitgemäßen – Religionen, entledigen sich vor allem die christlichen Nationen Europas, wie von Nietzsche vorausgesagt, des biblischen Gottes und seines dem Menschen offenbarten Wertekanons, als sei er nichts als lästiger Ballast.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Die Metapher von den drei Ringen, die einander zum Verwechseln ähneln, so dass sich angeblich nicht mehr feststellen ließe, welcher der ursprüngliche war und welcher der nachgeahmte, ist schon deshalb falsch, weil bei den drei in Frage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit Originalität ihrer Ideen feststellbar ist. Schon von daher sind die »drei abrahamitischen Religionen« von Grund auf verschieden: das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war Jude, sogar pharisäischer Schriftgelehrter – , während der Islam eine wesentlich spätere, außerhalb oder am Rand der jüdisch-christlichen Sphäre entstandene Bewegung ist, deren Textwerk, der Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient und zugleich ihre irdischen Vertreter bekämpft.

Die über Jahrtausende auseinander liegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, das Zutreffen der Ring-Parabel zu bezweifeln. Auch sonst wäre der Wahrheitsgehalt der Parabel zu prüfen, die aus ihr abgeleitete These von der spirituellen »Gleichheit« der drei »abrahamitischen Religionen« bis hin zu der heute in Europa verbreiteten, überaus bequemen, von jeder genaueren Kenntnis unbeschwerten Annahme, diese »Gleichheit« mache es überflüssig, sich überhaupt noch ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen. Ursprünglich, in der Version des Boccaccio, lange vor Lessings bedeutungsschwerer, pseudo-philosophischer Wiedergabe im »Nathan«, war die Ring-Parabel ein listiges »Geschichtchen« (im italienischen Original una novelletta), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin entziehen wollte. Die in der Not und halb im Scherz erzählte novelletta aus Boccaccios Unterhaltungs-Roman wurde erst in der Interpretation des deutschen Aufklärers Lessing zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.

Absicht dieser Betrachtung ist nicht, die eine Religion gegenüber der anderen auf- oder abzuwerten, sondern Voraussetzung zu schaffen für Austausch und Gespräch. Ein echter Dialog ist nur möglich, wenn jede Seite um ihre Herkunft und ihre Überlieferungen weiß, um die Positionen, die sich daraus im Heute ergeben, um die Möglichkeiten einer Annäherung an die jeweils andere Seite, jedoch auch um die Grenzen dieser Annäherung. Aus tagespolitischem Interesse werden diese Grenzen heute verwischt, mit dem Ergebnis zunehmender Verunsicherung. Bibel und Koran sollen hier in gebotener Kürze und Konzentration unter folgenden Aspekten gegenüber gestellt werden: Genealogie, Textstruktur und –konsistenz, Menschenbild, das Verhältnis zu Krieg und Frieden, der im Text dargestellte anthropologische Prozess.

Genealogie

Der Koran ist mehr als ein Jahrtausend nach der hebräischen und fünf bis sechs Jahrhunderte nach der christlichen Bibel entstanden, in einer Umgebung, die bereits weitgehend von biblischem Denken geprägt war. Mohamed lebte und wirkte am Rande des oströmischen Reiches, das rund zwei Jahrhunderte zuvor das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in geographischer Nähe zu den damaligen Zentren der byzantinischen und syrischen Kirche einerseits und den großen talmudischen Schulen des babylonischen Judentums, Sura und Pumbedita, andererseits. Der Inhalt der Bibel war ihm bekannt, er war mit Christen und Juden in alltäglichem Kontakt und sprach als Kaufmann höchstwahrscheinlich aramäisch, die lingua franca der antiken nahöstlichen Welt, zugleich die Sprache, in der sowohl die Werke der syrischen Kirche als auch der babylonische Talmud geschrieben wurden.

Vielleicht behauptet deshalb der Hadith, die Sammlung der Berichte über Worte und Taten Mohameds, dass der Prophet Analphabet gewesen sei: um den Vorwurf, es handle sich beim Koran – spirituell und geistesgeschichtlich – um ein Plagiat, von vornherein zu entkräften(6). Dieses Wort ist dennoch immer wieder gefallen, gerade in den Untersuchungen von Kennern der hebräischen, griechischen, aramäischen und arabischen Originaltexte, etwa in Franz Rosenzweigs Buch »Der Stern der Erlösung« von 1921(7). Rosenzweig hatte zuvor Arabisch gelernt, um das Werk in dieser Sprache lesen zu können, schon weil orthodoxe islamische Theologie jede Übersetzung des Koran, erst recht jede exegetische Textarbeit in anderen Sprachen für unzulässig erklärt.

Nach einem der ersten Texte des Hadith, überliefert von Aisha, der Witwe des Propheten, wurde dem analphabetischen Mohamed die Lehre vom Erzengel Gabriel mündlich mitgeteilt, und zwar mehr oder weniger unter Zwang(8). Der Erzengel Gabriel galt schon beim biblischen Propheten Hesekiel als Überbringer der Botschaft, zumal in der Darstellung des babylonischen Talmud(9). Auch vom Propheten Daniel heißt es, er hätte seine Botschaft von einem Engel empfangen(10). Dass ein Prophet unter Umständen dazu genötigt werden muss, die ihm zuteil werdende Mission anzunehmen, ist gleichfalls ein bekanntes biblisches Motiv, bekannt etwa aus den Büchern Jeremia oder Jona(11). Der Hadith, eine der Quellen islamischer Tradition und Gesetzeskunde, erweist sich schon zu Beginn, in der Überlieferung, wie Mohamed seine Botschaft empfing, als ein in Inhalt, Erzähl-Struktur und Leitmotivik biblisch geprägter Text.

Dem Hadith zufolge ging Mohamed nach Empfang der Botschaft zu einem Schriftkundigen, um aufschreiben zu lassen, was er gesehen hatte. Von diesem Schreiber, Waraqh ibn Naufal ibn Asad, einem Vetter von Khadijah, der ersten Frau des Propheten, heißt es im Hadith, er hätte »die hebräische Schrift« beherrscht und »von den Evangelien in Hebräisch abgeschrieben, was Allah gefiel, das er schreiben sollte«(12). Diesem Abschreiber biblischer Texte diktierte Mohamed, der islamischen Tradition zufolge, die ersten Botschaften seiner prophetischen Vision. Damit steht der Hadith in offenkundigem Widerspruch zu dem mehrmals im Koran verkündeten Diktum, der Koran sei ein arabisch geschriebenes Buch(13).

Das Dogma vom arabisch diktierten und geschriebenen Koran wird auch vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt bezweifelt, etwa in dem viel diskutierten Buch eines deutschen Orientalisten, der unter dem Pseudonym »Christoph Luxenberg« publiziert (aus Furcht vor einer fatwah, dem lebensgefährlichen Verdikt islamischer Geistlicher, wie es im freiheitlichen Europa bereits andere akademische Forscher bedroht(14)). »Luxenberg« geht davon aus, das Original des Koran wäre in der damals dominierenden Sprache, Aramäisch, geschrieben worden, schon deshalb, weil Arabisch erst rund hundert Jahre nach Mohameds Tod als Schriftsprache belegt ist. Die aramäische Erstschrift des Koran wäre dann in derselben Sprache geschrieben wie die Texte der syrischen Kirche und der babylonische Talmud, was die mühelose Übernahme zahlreicher Motive, Gedanken und kompletter Geschichten aus beiden Quellen erklären würde(15).

Für »Luxenbergs« These spricht mancher Hinweis im islamischen Schrifttum selbst. Etwa die im Hadith überlieferte Erinnerung des Zaid ibn Thait, der Prophet hätte ihm befohlen, »die Schrift der Juden« zu erlernen, um Aufzeichnungen für Mohamed machen zu können, wobei zwei andere Hadith-Überlieferer, Abu Dawud und Tirmidhi, hinzufügen, diese Schrift sei die syro-aramäische gewesen(16). In der Tat ist eine »Schrift der Juden« schon seit den Tagen vor der Zeitenwende – und bis heute – die aramäische. Seit der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil wurden hebräische Texte in aramäischen Lettern geschrieben, da das aramäische Alphabet das im Alltag gebräuchliche war(17). Auch der erwähnte arabische Schreiber Waraq ibn Naufal, Mohameds erster Aufzeichner, wird sich – zumal als Nichtjude – sehr wahrscheinlich der aramäischen Schrift bedient haben, wenn er, wie der Hadith überliefert, »in Hebräisch aus den Evangelien abschrieb«.

Der Koran ist zu weiten Teilen Bibel-Exegese. Er beschäftigt sich ganze Suren hindurch mit biblischen Figuren und erzählt ihre aus der Bibel bekannten Geschichten nach, wobei auch talmudische Midrashim oder christliche Legenden einfließen. Nacherzählt, paraphrasiert oder leitmotivisch erwähnt werden Lebensweg, Taten und Bedeutung von Adam, Noah, Abraham, Isaak und Jakob, in einer ganzen Sure von Joseph, in einem summarischen Abschnitt von Moses und Aron, dann nochmals von Abraham und Noah, David, Salomon, Hiob, Jona und Sachariah (Zacharias), in einer eigenen Sure wiederum von David, in einer anderen nochmals ausführlich von Moses, Lot, dem Propheten Elias und noch anderen Gestalten der hebräischen Bibel. Auch aus den christlichen Evangelien übernahm Mohamed auf diese Weise Erzählstoff und Personen, etwa Jesus, Johannes und Maria(18). In der Maria gewidmeten Sure gibt es wiederum eine längere Passage über Abraham, Isaak und Jakob, drei Gestalten, die im biblischen Text in keinem direkten Zusammenhang zu Maria stehen – ein Beispiel für die oft sprunghafte Assoziationstechnik, deren sich der Verfasser des Koran im Umgang mit biblischen Stoffen bedient.

Nähme man vom Koran alles hinweg, was biblischer Stoff, späteres jüdisch-talmudisches oder christlich-theologisches Denken ist, bliebe nur noch ein schmaler Korpus übrig. Im Grunde ist das meiste, was der Koran an Fakten mitteilt, biblischer Stoff. Wie ist bei dieser unbestreitbaren Abhängigkeit von jüdisch-christlichem Gedankengut die antijüdische und antichristliche Polemik des Textes zu erklären, die ein stilistisches Leitmotiv der 114 Suren bildet? Der polemische Unterton ist eine der Merkwürdigkeiten des Koran, die nur ihm als dem letzten der drei hier betrachteten Textwerke möglich ist. Während Juden und Christen als die Früheren von der Existenz der späteren Religion nicht wussten, sich folglich auch nicht mit ihr beschäftigten, konnte sich der Koran von Anfang an in polemischem Ton mit ihnen auseinandersetzen.

Die Polemik des Koran ist wiederum von den christlich-jüdischen und inner-christlichen Feindseligkeiten des 5. und 6. Jahrhundert beeinflusst. Der Aufstieg der Lehre Mohameds und des Islam wurde durch innere Zerrissenheit des Christentums und durch den christlichen Judenhass begünstigt. Mit Melito von Sardes, Ambrosius und einigen Kirchenvätern hatte sich der Antijudaismus der Kirche konsolidiert. Zugleich waren byzantinische, römische und ägyptische Kirche über die ungeklärte Frage von Christi Natur so tief zerstritten, dass ihre Versöhnung undenkbar schien und ihre Missionstätigkeit im Osten des Reiches erlahmte. Außenstehende verloren in den spitzfindigen innerkirchlichen Debatten die Orientierung. Die Vehemenz der Kämpfe zwischen den verschiedenen Kirchenfraktionen und zwischen diesen und den Juden stand in offensichtlichem Widerspruch zu der in der Bibel geforderten Nächstenliebe. In diese Bresche stieß Mohamed mit einer vereinfachten Version des monotheistischen Konzepts, die vor dem Plafond der zeitgenössischen Zerwürfnisse überzeugend und integrierend wirkte.

Der neue Prophet leugnete keineswegs, dass er nur vollenden wollte, was vor ihm andere begonnen hatten, nur in wahrem Gottesgehorsam auszuführen sich anschickte, was Juden und Christen bereits enthüllt worden war, aber dann von ihnen durch Abtrünnigkeit verraten. Er sah sich als Verteidiger der Lehre gegen ihre ungehorsamen Schüler. Im selben Maß, in dem er einem bisher unwissenden, heidnischen Publikum die Essenz biblischer Gedanken als eigene Botschaft verkündete, vollzog er die Abgrenzung von Juden und Christen, denen er sie verdankte. In Sure 2, Vers 59 wird Juden und Christen zwar noch zugestanden, dass sie an der göttlichen Gnade teilhaben können, sofern sie »an Gott und den Letzten Tag glauben«, doch schon in Vers 107 der selben Sure – nach einer summarischen Darstellung des Zerwürfnisses zwischen Christen und Juden – wird beiden die Berechtigung abgesprochen, die Orte des Gebets zu Gott überhaupt noch aufzusuchen, da sie diese für die Anhänger der wahren neuen Lehre blockierten und zerstörten(19).

Sure 2, Vers 110 verwirft gezielt das christliche Konzept vom Gottessohn. Sure 5 setzt sich mit den Juden auseinander, die frühere Inhaber der Lehre und »Volk des Buches« genannt werden, jedoch durch Ungehorsam Gott erzürnt hätten, und kommt in Vers 85 zu dem Ergebnis: »Du wirst mit Sicherheit entdecken, dass die größten Feinde der Gläubigen die Juden und die Götzenanbeter sind«. Juden und Götzenanbeter in einem Atemzug zu nennen, soll in Anbetracht der aus der Bibel bekannten jüdischen Aversion gegen Götzenkulte eine besondere Kränkung darstellen. In Vers 56 derselben Sure werden die Christen in das verächtliche Verdikt einbezogen: »Oh Gläubige, nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freunden, denn sie sind untereinander befreundet. Wer sie zu seinen Freunden macht, wird einer von ihnen«.

Dass die Abgrenzung von den früheren Inhabern »des Buches« einen Akt der Besitzergreifung darstellt, gibt Vers 62 zu erkennen: »Oh Gläubige, nehmt euch niemals die zu Freunden, denen das Buch vor euch gegeben wurde, und die Ungläubigen, die eure Religion mit Spott bedenken«. Die Religion des Buches ist also bereits »eure«, nämlich in den Besitz der Anhänger Mohameds übergegangen, während ihre früheren Eigentümer von nun an »Ungläubige« sind. Sure 48 (betitelt »Sieg«) erklärt Torah und Evangelien bereits zu Büchern, in denen die Anhänger Mohameds dargestellt würden (Vers 29). Auch einzelne Gestalten wie Stammvater Abraham werden dieserart übereignet, Sure 3, Vers 60 erklärt, er sei »weder Jude noch Christ, sondern Muslim«. Der Prozess der eigenen Selbstaufwertung auf der Grundlage einer Schmähung von Juden und Christen ist von nun an ein Leitmotiv des Koran. Als Legitimation wird angegeben: »Denn sie sind ein Volk ohne Verstand«(20).

Der Verurteilung der früheren Völker der Bibel folgte ihre im Koran geforderte Bestrafung. Noch zu Lebzeiten ließ Mohamed alle Juden der Stadt Medina niedermetzeln, weil sie sich weigerten, ihn als den Propheten Gottes anzuerkennen. Allmählich breiteten sich die islamischen Glaubenskrieger im Mittleren Osten aus. Mohameds Version der monotheistischen Botschaft gab den nomadischen Beduinenstämmen der arabischen Wüste eine Selbstgefühl schaffende, einende Identität. Jahrhundertelang hatten sie sich gegenseitig bekriegt und vernichtet, hatten sie raubend, plündernd, um Wasserstellen und Weideland kämpfend die arabische Halbinsel durchstreift, in einem Zustand, den die islamische Tradition jahiliya nennt, »das Zeitalter der Ignoranz«(21).

Durch die Lehre vom Einen Gott geeint, erwiesen sich die vordem verstreuten Nomadenstämme als unschlagbar. Schon wenige Jahre nach Mohameds Tod eroberten sie erste Gebiete des römischen Imperiums, 634 die Byzanz vorgelagerte Festung Bosra, dann die großen christlichen Städte des Ostens, Damaskus, Aleppo, Antiochia, nach der Schlacht am Yarmok ganz Syrien, wenig später, 637 oder 638, Jerusalem, von dort aus die Küste der römischen Provinz Palästina. Sodann Alexandria und Ägypten, das östliche Mittelmeer und Nordafrika, wodurch schon wenig später die islamische Invasion gegen Europa selbst, die spanische Halbinsel, Süditalien und Frankreich, möglich wurde.

Kaum jemand in Europa hatte die Gefahr bemerkt. Weder die Entschlossenheit der islamischen Glaubenskrieger noch die integrierende Wirkung der Predigten Mohameds, die aus dem komplizierten, detaillierten, nur für Schriftkundige verständlichen Buch der Juden und Christen eine Kraft des absoluten Gottesgehorsams und »heiligen Kampfes« werden ließen, ein verheerendes Potential, scheinbar aus dem Nichts erwachsen, aus einer desolaten Randprovinz des Reiches, Arabia deserta, die Römer und Europäer bis dahin keiner ernsthaften Betrachtung für wert erachtet hatten. Bis ins Mittelalter nahm die europäische Literatur Mohamed kaum zur Kenntnis, obwohl die Wirkung seiner Lehre überall spürbar, das Mittelmeer von seinen Flotten kontrolliert, ein Teil Europas von seinen Heeren besetzt war. Ein 1260 erschienener französischer Roman de Mahomet zeichnet ihn als Schwindler und Scharlatan, Dantes Divina Commedia um 1320 als »Antichrist«. Erst Goethe, Ende des 18.Jahrhunderts, versuchte einen differenzierteren Zugang zu dieser für Europas Schicksal so folgenschweren Figur(22).

Für Mohamed bestand die Ironie der Geschichte darin, dass die innere Zerrissenheit der christlichen Sphäre, die er für den Aufstieg seines religiösen Konzepts so erfolgreich zu nutzen verstand, wenig später auch das Schicksal seiner eigenen Bewegung wurde. Die von ihm erstrebte Einigkeit der Muslime hielt nur kurze Zeit. Schon mit seinem Tod und den Auseinandersetzungen und Kriegen um seine Nachfolge begann sich die neue Religion zu spalten und in Fraktionen zu zerfallen, die einander bis heute blutig bekämpfen.

© Chaim Noll (2007)
wird fortgesetzt…

  • (1) »To understand each other you have to talk about what divides« zitierte das amerikanische Nachrichtenmagazin Time, 27.11.2006, einen »dem Papst (Benedikt XVI.) nahestehenden Kleriker«.
  • (2) Vor allem in jüngster Zeit haben die Kirchen die innere Konsistenz zwischen »Altem« und »Neuem Testament« stärker als früher betont, nicht zuletzt aus der Erfahrung, »dass ohne das Alte Testament, ohne Kontakt zu einem unsterblichen, alles überdauernden Judentum, das Christentum seinen eigenen Ursprüngen nicht treu sein kann.« (Papst Benedikt XVI.)
  • (3) Friedrich Nietzsche, Antichrist, 1888
  • (4) Gotthold Ephraim Lessing erzählt in seinem Theaterstück »Nathan der Weise« (uraufgeführt 1783 in Berlin) die aus Boccaccios »Decameron« (um 1350) bekannte Ringparabel nach, die dort von einem Juden Melchisedech aus Alexandria berichtet wird (»Melchisedech giudeo con una novella di tre anella cessa un gran pericolo dal Saladino apparecchiatogli«) vgl. Decameron, Edizione Riuniti, Roma 1983, p.56 (Dritte Erzählung des Ersten Tages).
  • (5) Abrahams Geschichte wird zuerst in 1 Moses 12,1-25,11 mitgeteilt, er gilt als Stammvater der Hebräer. Die Evangelien leiten auch Jesu Herkunft von ihm her (Matthäus 1,1, Lukas 1,55), dem Neuen Testament gilt er als »unser aller Vater« (Brief des Paulus an die Römer 4,16). Der Koran erwähnt ihn an ca.50 verschiedenen Stellen und behauptet, Sure 3 Vers 60: »In Wahrheit war Abraham weder Jude noch Christ, sondern Muslim«.
  • (6) Maulana Muhammad Ali, A Manual of Hadith (Arab/English), London and Dublin, 1977, p.4
  • (7) Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M, 1921, S.149, über den Islam: »Und so können wir an diesem merkwürdigen Fall weltgeschichtlichen Plagiats uns vor Augen halten (…), wie ein aus dem Heidentum unmittelbar, sozusagen ohne Gottes Willen, ohne den Plan seiner Vorsehung, also in ‚rein natürlicher’ Verursachung, hervorgegangener Offenbarungsglaube aussehen müsste.«
  • (8) Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Aisha, pp.4-9, hadith Jabir, p.9
  • (9) Hesekiel 9,2. Der sechste Engel in der Vision Hesekiels ist in der Darstellung des Babylonischen Talmud, Traktat Yoma 77a, der Erzengel Gabriel.
  • (10) Daniel 10,5
  • (11) Jeremia 1,6 ff., Jona 1,3 ff.
  • (12) Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Aisha, p.7
  • (13) Suren 12, 2 ; 13,38 ; 16,105 ; 20,111 u.v.a.
  • (14) Christoph Luxenberg, Die Syro-Aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000. Todesdrohungen extremistischer Muslime galten auch dem deutschen Orientalisten Hans-Peter Raddatz, dem französischen Philosophen Alain Finkielkraut u.a.
  • (15) Was Luxenbergs These spektakulär macht und zum Gegenstand weltweiter Beachtung in den Medien, ist die daraus abzuleitende Annahme, es handle sich bei den in der arabischen Fassung des Koran beschrieben Paradieswonnen um Missverständnisse im Übersetzen aus dem Aramäischen: die Houris »mit schwellenden Brüsten« wären dann z.B. Rosinen. vgl. The Guardian, 12.January, 2002; newsweek, July 28, 2003
  • (16 Maulana Muhamad Ali, a.a.O., hadith Zaid ibn Thabit, p.36, zu Abu Dawud und Thirmidi vgl.Fussnote 8 auf derselben Seite
  • (17) vgl. Ada Yardeni, The Book of Hebrew Script, Jerusalem 1997, Chapter 1E: The Abandonment of the Ancient Hebrew Script in Favor of the Aramaic Script, and the Birth of the Jewish Script, pp.41-46. Auch die talmudische Gemara überliefert, dass zwei Alphabete zum Schreiben hebräischer Texte in Gebrauch gewesen seien, ksav ashuri, das »Assyrische« (d.i.das Aramäische), und ksav ivri, das Hebräische. Früheste Funde für beide Schriften etwa aus derselben Periode, 9.Jahrhundert v.u.Z.
  • (18) Sure 19 ist nach Maria benannt, ihre Geschichte wird dort fragmentarisch nacherzählt und mit Erwähnungen von Gestalten aus der hebräischen Bibel (Abraham, Sacharja) und der christlichen (Johannes) auf eine schwer nachvollziehbare Weise verquickt.
  • (19 Die in Sure 2 Vers 107 dargestellte gegenseitige Geringschätzung von Juden und Christen steht in offensichtlichem Widerspruch zu der in Vers 56 derselben Sure erhobenen Behauptung, sie wären »befreundet«.
  • (20) Sure 5 Vers 63
  • (21) vgl. Morris S.Seale: Quran and Bible, Studies in Interpretation and Dialogue, London 1978, p.13, dort besonders der Bezug auf I.Goldziher und dessen Übersetzung des alt-arabischen jahl.
  • (22) Zunächst in Texten, die um 1790 anlässlich der Übersetzung und Bearbeitung von Voltaires (den Propheten überaus negativ darstellenden) Mahomet ou le Fanatisme entstanden, wie dem Gedicht Mahomets Gesang. Später beschäftigte sich Goethe ausgiebig mit arabischer Poesie und entwickelte eine starke Hinneigung zur islamischen Sphäre.

Eine Reaktion zu “Bibel und Koran (I)”

  1. Dorit

    Guten Morgen, Männer…,
    es ist mir ein Bedürfnis, Euch wenigstens mitzuteilen, daß ich Euren Koran-etc.-Diskurs mit Aufmerksamkeit und großem Interesse verfolge…!

    Jeden Morgen kieke ich, ob ggf. schon „Zeitung“ (da) ist… :-)

    Vielen Dank + Grüße!

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