••• In den letzten Tagen haben mich viele Freunde und Bekannte – jüdische wie nichtjüdische – auf meinen Artikel vom 3. Juni angesprochen (»Der Autor als Seelenstripper«), und das Feedback ist durch die Bank verständnisvoll und unterstützend, was mich angenehm überrascht und mich vermuten lässt, dass ich in dieser Sache womöglich in neurotischer Übervorsicht agiert habe.
Am Sonntag hatte ich ein mehrstündiges Gespräch mit einer Journalistin, die trotz meines Artikels noch für eine Rundfunksendung »nachfragen« wollte. Nach dem Gespräch hatte aber auch sie verstanden, dass sich eine solche Diskussion für einen 4-Minuten-Beitrag im Radio nicht eignet und dass die Verhandlung des Themas am Beispiel der Autorenvita zumindest fragwürdig ist.
In diesem Gespräch kamen wir noch einmal auf die Frage der deutsch-jüdischen Geschichte zu sprechen, die »Chose«, wie Anna-Patricia Kahn sie nennt, und darauf, warum ich mich offenbar so deutlich in der Verwandtschaft jener Familiengeschichten sehe, die von Verfolgung und Exil aber auch Mord geprägt sind. Dafür gibt es zumindest zwei Gründe, und wenn wir nun schon einmal dabei sind, die Details der Autorenvita näher zu beleuchten, will ich ich sie ergänzend zum o. g. Beitrag hier auch nennen.
Der Umstand, dass ich in der DDR geboren bin, spielt dabei sicher eine wesentliche Rolle. Meine Eltern sind beide 1949 geboren, und sie wurden wie auch ich mit dem – nicht nur geschönten, sondern bewusst verfälschten – Geschichtsverständnis groß, dass die DDR der Staat der Antifaschisten war, also der »gute Teil« Deutschlands, die Heimstatt jener, die gegen die Hitlerei gekämpft hatten. Hinzu kam die Geschichte des väterlichen Teils meiner Familie, die für mich schon allein deswegen dominierend war, weil meine Großeltern mütterlicherseits bei meiner Geburt bereits gestorben waren bzw. kurz danach starben. Es gab noch eine Tante und eine Cousine meiner Mutter, aber kaum »Geschichten« und vor allem keine prägenden Figuren, wie es etwa väterlicherseits die beiden damals noch lebenden Urgroßmütter, mein Großvater und eben der 1933 ermordete Urgroßvater waren.
Auf dem Fernseher meiner Urgroßmutter stand eine vergilbte Fotografie aus dem Jahre 1932, die meine Urgroßmutter durch alle Wirren des Exils gerettet hatte und die meinen Urgroßvater zeigte: mit kahlgeschorenem Charakterkopf, eher schmal, aber mit energischem Gesichtsausdruck. Er ist schon lange tot, wurde mir beschieden, als ich als kleiner Junge fragte. Später erfuhr ich, wie er zu Tode gekommen war, aber auch nichts Genaues. Hätte meine Mutter nicht irgendwann mit meiner Urgroßmutter gekocht, um ihr ihre leckeren Rezepte (die sie nie aufschreiben wollte) abzuschauen, und wäre sie während dieser Kochstunden nicht noch mit ihr ins Gespräch gekommen – wahrscheinlich hätten wir Enkel nie erfahren, wie sich damals alles zugetragen hatte: die Sache mit dem Mord und dem Exil.
Ich habe online einige Belege gefunden, was die biographischen Fakten meines Urgroßvaters und meines Großvaters angeht.
In »Leipzigs Neue« (Linke Zweiwochenzeitung Leipzigs) vom 4. November 2005 erklärt Dieter Kürschner auf S. 12, warum nach meinem Urgroßvater Walter Albrecht in Leipzig eine Straße und ein Kulturhaus benannt sind:
In Mockau-Nord trägt seit Juni 1948 ein Weg den Namen des Antifaschisten und Naziopfers Walter Albrecht. Er wurde am 8. März 1892 in Plagwitz, Alte Straße 7 (heute 11) geboren. Sein Vater war Markthelfer, später Droschkenkutscher.
Nach der Volksschule, die er in Leipzig besuchte, lernte Walter Albrecht den Beruf des Zimmermanns. Während der Lehre trat er auf Anregung seines älteren Bruders in den Arbeiterjugend-Bildungsverein ein und hörte im Volkshaus Vorträge nicht nur zu politischen Themen. Wie üblich ging er nach der Lehre auf Wanderschaft, die ihn bis in die Schweiz führte. 1913 wurde er zum Militärdienst in das Pionierbataillon Riesa einberufen. Mit dem erlebte er dann auch die Schrecken des Ersten Weltkrieges, aus dem er als Kriegsgegner heimkehrte.
Er wurde Mitglied der USPD. Arbeit fand er 1919 bei Hases Achterbahn, mit der er über die Jahrmärkte zog und schließlich nach einem schweren Unfall nach Leipzig zurückkehrte. Inzwischen mit Berta Wuttig verheiratet, stellte er sich 1920 mit vielen Genossen dem Kapp-Putsch entgegen. Dabei zeichnete er sich als Unterführer mit seinen Genossen aus Lindenau und Plagwitz an der Zeppelinbrücke aus. Nach der Geburt seines Sohnes Werner 1921 bezog die kleine Familie eine Wohnung im Seitengebäude der Plagwitzer Straße 35. Nach dem Hallischen Parteitag der USPD trat er 1923 zur KPD über. Hier engagierte er sich besonders in der gewerkschaftlichen Arbeit, vorwiegend im Zimmerer-Verband.
1924 wurde er Mitglied des Rotfrontkämpfer-Bundes. 1926 wurde Walter Albrecht in die Bezirksleitung Westsachsen der KPD gewählt. Hier arbeitete er erst in der Landwirtschaftsabteilung, später in der Gewerkschaftsabteilung. Zugleich hatte er Parteifunktionen im Leipziger Zentrum, zeitweise sogar als politischer Leiter. 1928 wurde er Mitglied in der Roten Gewerkschaftsopposition (RGO), deren Ortsvorsitzender er ab 1929 war. Er war Elternvertreter in der 41. Volksschule, trat bei Wahleinsätzen, der Landagitation, Demonstrationen und Solidaritätsveranstaltungen hervor. Zeitweilig gelang es ihm auch in seinem Beruf Arbeit zu finden, so beim Bau der Plagwitzer Brücke und der Großmarkthalle. 1933 kandidierte er für die KPD zu den Landtags- und den Stadtverordneten-Wahlen.
Nach dem Machtantritt der Nazis wurde ihm im April 1933 nach der Verhaftung von Fritz Selbmann und Max Rölz die Leitung des Nachrichtendienstes der KPD-Bezirksleitung Sachsen übertragen. Am 14. Juli 1933 fiel er den Nazis durch Verrat in die Hände. Er wurde im Gefängnis Wächterstraße bestialisch gefoltert, verbrachte die Wochen bis zum 7. August in Einzelhaft und wurde an diesem Tag in den Tod getrieben.
Seiner Frau und dem Sohn gelang die Flucht in die Sowjetunion. 1945 wurde seine sterbliche Hülle als eine der ersten auf dem Ehrenhain des Südfriedhofs bestattet. Das Kulturhaus des Kulturbundes in der Elsterstraße erhielt seinen Namen.
Kaum etwas von diesen Details habe ich bis heute gewusst. Ich finde es sogar zu einem gewissen Grad erschreckend, wie viel ich »erahnt« habe in meiner (fiktionalisierten!) Darstellung im »Alphabet des Juda Liva« – etwa, dass Walter seine Berta nicht nur auf dem Rummel kennengelernt hatte, sondern selbst mehrere Jahre mit den Schaustellern über Land gezogen war.
Meine Urgroßmutter hat immer bestritten, dass er sich – wie es im offiziellen Bericht der Gestapo hieß – »mit seinem Taschentuch in der Zelle erhängt« haben soll. »So war er nicht«, hat sie zu meiner Mutter gesagt, und: »Ich habe keine Würgespuren an seinem Hals gesehen. Aber sein Gesicht habe ich gesehen, das kaum noch zu erkennen war, und all die anderen Wunden.«
Wenn ich nun lese, welche Position er in der KPD Sachsens damals ausfüllte, mag ich mir die Szenen im Gestapo-Gefängnis gar nicht ausmalen, und die Version des Selbstmords scheint mir gar nicht mehr so abwegig.
Als 15jähriger bin ich einmal für einige Tage nach Leipzig gefahren, habe in einem Altenheim einige seiner früheren Weggenossen besucht, sein Grab gefunden und das Kulturhaus besichtigt, das seinen Namen trägt. Jahre zuvor war meine Mutter mit mir auf den »Friedhof der Sozialisten« in Berlin-Friedrichsfelde gegangen und hatte gemeinsam mit mir auf der großen Granittafel am Ehrenrondell seinen Namen gesucht und gefunden.
Auch über meinen Großvater Werner Albrecht finde ich heute in einem Online-Lexikon Informationen, die über das hinausgehen, was mir bislang bekannt war. (Ich schreibe die Abkürzungen für das bessere Verständnis aus).
Albrecht, Werner
19.2.1921 – 6.1.1993
Leiter der Allgemeinen Abteilung des ZK der SEDGeb. in Leipzig; Vater Zimmermann; 1934 Emigration in die CSR, Aug. 1934 UdSSR; 1934-38 Heim für Kinder von Politische Emigranten, Mittelschule in Moskau; 1939 sowjetische Staatsbürgerschaft, Mitglied des Komsomol; 1939-41 Studium der Medizin an der Moskauer Universität und in Frunse (Kirgisien); 1942-45 Arzthelfer in der Trud-Armee in Tscheljabinsk und Ufa; 1945-47 Elektromonteur in Spola (Kiewer Gebiet).
Okt. 1947 Rückkehr nach Deutschland, SED; 1947-50 Übersetzer und Dolmetscher, dann politischer Mitarbeiter in der Allgemeinen Abteilung (die für die Verbindung zur KPdSU zuständig war) beim PV bzw. ZK der SED; 1965 sowjetische Medaille 20 Jahre des Sieges über den Hitlerfaschismus; 1968 Dipl.-Sprachmittler für Russisch an der HU Berlin; 1969 Vaterländischer Verdienstorden; 1969/70 Parteihochschule der KPdSU in Moskau; 1971 stellv. Leiter, 1972-81 Leiter der Allgemeinen Abteilung des ZK der SED (Nachfolger von Martha Golke); 1981 Ruhestand; Vaterländischer Verdienstorden; Mitarbeiter im Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer; 1986 Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden; gest. in Berlin.
Dass er in Kirgisien studiert, als Elektromonteur in Spola gearbeitet hat, war mir nicht bekannt. Ich lernte ihn erst kennen, als er Leiter der Allgemeinen Abteilung des ZK war und zu Familienfeiern vom Chauffeur in der Staatskarosse vorgefahren wurde… Man kann sich leicht vorstellen, dass solche Dinge auf einen Knirps ziemlich Eindruck machen.
Über diese Funde muss ich mich mal mit meinem Vater beraten. Ich frage mich, ob er alle diese Details kennt. Das »Wunder« jedenfalls, dass ich 1989 nach meiner Weigerung, in den DDR-Grenztruppen zu dienen, nicht in den Knast kam, sondern ganz überraschend »auf unbestimmte Zeit« vom Wehrdienst zurückgestellt wurde, habe ich womöglich meinem Großvater zu verdanken. Aber er war ja ein »Geheimnisträger«, also geübter Schweiger, und natürlich haben wir auch darüber nie gesprochen.
Wie auch immer: Nun jedenfalls sind die Turmsegler und die evtl. mitlesenden Journalisten auf dem Stand. Und damit dürfte es nun wohl wirklich genügen, und ich kann mich wieder der Literatur zuwenden. »Diamond District« wartet …
Ach, eines vielleicht noch: Den Namen zu wechseln, zunächst als Autor und später auch im gesamten bürgerlichen Leben, kam mir wie eine zwingende Notwendigkeit vor. Ich wollte mich emanzipieren – von den Toten, vom Exil, von der Staatskarosse und seinem stolzen Insassen. Es ist ebensowenig ein persönliches Verdienst, Nachkomme von »Opfern« zu sein, wie es eine persönliche Schuld ist, Nachkomme von »Tätern« zu sein. Ich wollte selbst bestimmen, wer ich sein würde – als Autor, als Mensch. Ich wollte selbst bestimmen. Das kann ein Name allein nicht leisten. Aber er hilft dabei.
PS: Mein Vater hat mir das Foto von Walter Albrecht geschickt, das bei meiner Urgroßmutter auf dem Fernseher stand. Es kann, denke ich nun, kaum von 1932 sein, denn wie 40 sieht der Mann darauf sicher nicht aus. Aber wie auch immer: Ich betrachte das Foto heute ebenso intensiv wie damals als Kind.
Am 16. Juni 2010 um 08:37 Uhr
Mein Vater hat mir das Foto von Walter Albrecht geschickt, das bei meiner Urgroßmutter auf dem Fernseher stand. Es kann, denke ich nun, kaum von 1932 sein, denn wie 40 sieht der Mann darauf sicher nicht aus.
Ich ergänze es oben.
Am 16. Juni 2010 um 08:41 Uhr
Wieso sieht er nicht wie 40 aus? Was vermutest Du?
Am 16. Juni 2010 um 08:43 Uhr
Ich würde vermuten, er ist da so um die 30, also dass das Foto aus den frühen 1920er Jahren stammt.
Am 16. Juni 2010 um 08:52 Uhr
Ich finde es schwierig zu beurteilen. Könnte auch Ende 30 sein. ;)
Am 16. Juni 2010 um 12:28 Uhr
Also, ich würde sagen, das Foto ist von 1926 / 1928.
Ich „argumentiere“ jetzt nur mal von der Kleidung her. Also von der Mode (Art des Anzuges, der Schlips + die Art, ihn zu binden, und so).
Dann wäre Dein Großvater, Pardon, Urgroßvater, allerdings erst Mitte / Ende Zwanzig als das Foto entstand…?
Am 16. Juni 2010 um 12:29 Uhr
Na, ich wusste ja gar nicht, dass Du in Modefragen des letzten Jahrhunderts derart bewandert bist :-) Aber das mit dem Rechnen müssen wir noch üben. Von 1892 bis 1928 sind es doch 36 Jahre…
Am 16. Juni 2010 um 12:37 Uhr
Oh, ja…, habe mich um 10 Jahre „vertan“…!
Nee, mit Mode kenne ich mich auch nicht so dolle aus, eher mit der Fotografie (also eher abgeleitete Modekenntnisse).
Apropos: habe ein Foto aus der Zeit, meines eigenen Großvaters, wirklich aus den 30er Jahren. Da kannste den Unterschied (Kleidungsstil) wirklich sehen.
Ansonsten stimmen die „Parameter“ nämlich überein (Alter als das Foto entstand z.B., mein Opa ist 1902 geboren, und auch aus eher einfachen Verhältnissen, Schlosser war er ja damals noch).
Schicke ich Dir mal, so auch für den Vergleich, wenn Du willst… :-) – Ansonsten, wenn es wichtig ist für Dich, bedarf meine „Hypothese“ natürlich noch einer genauren „Prüfung“…!
Am 19. Juni 2010 um 13:25 Uhr
Wow, da bin ich mal wieder sprachlos und einerseits fasziniert, andererseits auch etwas beklemmt. Was kann man aus diesem Online-Lexikon alles erfahren!
Muss ich jetzt erst einmal meine Gefühle sortieren. Ist jedenfalls interessant zu lesen.
Am 8. Juli 2019 um 20:50 Uhr
Lieber Benjamin Stein,
meine Mutter hieß Ingeborg Wolters, meine Oma Dora Wolters geb. Albrecht und war die Schwester von Walter Albrecht. Ich weiß noch einiges zur Geschichte Ihrer Familie. Bei Ihrem Großvater Werner habe ich, während ich an meiner Doktorarbeit geschrieben habe, für 4 Wochen gelebt. Ich mochte ihn sehr!
Gerne können wir uns austauschen.
Viele Grüße von Dr. Heidrun Rudolph