••• »Seine Eltern blendeten ihr Judentum komplett aus.« So steht es in Ijoma Mangolds Stein-Porträt »Religion ist kein Wunschkonzert«, und dies ist der einzige Satz in diesem Artikel, der nicht zutreffend ist. Ich habe das so auch nicht gesagt, vielmehr: »Jüdischkeit spielte in meinem Elternhaus absolut keine Rolle.«
Jüdische Identität hat aus nahe liegenden Gründen viel mit der Frage zu tun, ob man überhaupt jüdisch ist. Und diese Frage ist – gerade in unserer Zeit und in diesem Land – mitunter schwieriger zu beantworten, als man annehmen möchte. Denn das jüdische wie das deutsche Verhältnis zu dieser Frage ist nach der Shoah und bis heute ein – um es gelinde zu sagen – neurotisch belastetes, wenn nicht Schlimmeres.
Die Kriterien sind eigentlich von der Orthodoxie klar vorgegeben und unmissverständlich: Jüdisch ist, wer entweder nach orthodoxen Spielregeln jüdisch geworden (also konvertiert) ist oder aber eine jüdische Mutter hat (wobei in diesem Fall die Beweislast auf die vorangegangene Generation verlagert wird). Es genügt kein Hörensagen, sondern es braucht schriftliche Beweise, beispielsweise eine orthodoxe Ketuba (Ehevertrag) der Mutter oder orthodoxe Zeugen.
In Deutschland wurden durch die Nürnberger Gesetze viele zu »Juden«, die es gemäß des jüdischen Religionsgesetzes gar nicht waren. Bereits ein jüdischer Großelternteil setzte diese Menschen jedoch der Verfolgung aus, und unabhängig davon, als was sie sich selbst empfanden, wurden sie als »Juden« verfolgt, und dies bedeutete ihren Tod oder prägte sie, wenn sie überlebten, für den Rest ihres Lebens. Wer wollte einem solchen Menschen später sagen: Du bist nicht jüdisch!? Niemand – ausgenommen jeder orthodoxe Rabbiner, wenn eine Hochzeit ansteht, wenn Kinder geboren werden oder Gott behüte eine Beerdigung auf einem jüdischen Friedhof zur Diskussion steht. Denn mit vollem Recht schert sich das Judentum keinen Deut um die Nürnberger Gesetze.
Ein nicht geringer Teil der nach 1945 wieder in Deutschland lebenden Juden, die sich der Orthodoxie zurechnen, hat irgendwann im Leben vor der erschütternden Erkenntnis gestanden, aus Sicht der Religion ein »Fremder« zu sein, nicht jüdisch. Und solche Eröffnungen haben immer identitätsbedrohende, schmerzliche Auswirkungen für die Betroffenen. Man regelt das: Die Betroffenen »konvertieren«, eine Tatsache, die den meisten so absurd erscheint und beschämend ist, dass sie darüber nicht sprechen. Bis zur nächsten Prüfung ihres »religiösen Status« durch einen anderen Rabbiner, der seinerseits womöglich die Konversion nicht anerkennt… Ich kenne orthodoxe Juden hier in Deutschland, die aus scheinbar »intakten« jüdischen Familien stammen und nicht weniger als 3x in ihrem Leben »jüdisch werden« mussten. Ich überlasse es der Phantasie des Lesers, sich vorzustellen, wie man sich in einem solchen Fall fühlt und welche Ängste einen fortan begleiten.
Als beschämend, wenn nicht gar als Beleidigung wird es jeder orthodoxe Jude empfinden, wenn man ihn daran erinnert, »dass seine jüdischen Wurzeln«, wie es in der »Leinwand« heißt, »womöglich nicht unmittelbar bis an den Fuß des Berges Sinai zurückreichen«.
Meine Eltern sind nicht jüdisch. Punkt. Das steht außer Zweifel.
Wenn es jüdische Vorfahren gab, dann über die Väterlinie, und jeder dieser Männer hätte die Verbindung zur Religion weit von sich gewiesen. So war ihre Überzeugung. Es gibt Leute, die betreiben »Ahnenforschung«, um jeden einzelnen jüdischen Vorfahren auszugraben. Ich habe das immer abgelehnt. Religiös wäre diese jüdische Vorfahrenschaft ohnehin irrelevant gewesen. Damit stand mein Weg fest: Ich musste konvertieren, wobei ich den Begriff immer unpassend fand, weil es in meinem Fall keine Konfession gab, von der ich hätte konvertieren können oder müssen. Dieser Prozess begann 1986 und endete endgültig erst 2004 – nach 18 Jahren jüdischen Lebens!
Das erste Mal »konvertiert« bin ich mit 21, leider reformiert, so dass ich, als ich nach München kam, vom Rabbinat zu hören bekam: Sie können nicht Gemeindemitglied werden, denn Ihre Papiere können wir nicht anerkennen. Ich überspringe die Details, kann aber versichern, dass für mich absolut zutrifft, was Jan Wechsler über sich sagt: »Ich habe Erfahrung darin, ein Leben für ein anderes aufzugeben.« Hinter mir liegen zwei »Konversionen«, ich habe meine Frau dreimal heiraten dürfen: bürgerlich (2001), reformiert (2002) und dann noch einmal orthodox hier in München (2004). Und das alles hat so lange gedauert, dass vor dem jüdischen Gesetz unsere Kinder (geb. 2002 und 2003) als unehelich gelten und damit auch keine »geborenen Juden« sondern »gewordene Juden« sind.
An der Tatsache, dass ich heute Gabbai einer orthodoxen Synagoge bin und dort vorbete, kann man sehen, dass heute jedenfalls hier niemand mehr meinen »Status« infrage stellt. Aber man kann sich wahrscheinlich leicht vorstellen, dass diese Frage bei mir nach wie vor an Existentielles rührt, dass noch immer heftigste Wut in mir aufsteigt, wenn ich nur daran denke, was da hinter mir und meiner Frau liegt. Nein – um das Wort noch einmal aufzunehmen, das im oben erwähnten Porträt mehrfach fiel: Das alles war sicher keine Hochzeitsnacht! Und eine Gesetzesreligion ist eben tatsächlich kein Wunschkonzert.
Nun sehe ich mich heute, nach Erscheinen der »Leinwand« mit dem Umstand konfrontiert, dass man sich von Seiten der Presse für den Autor wenigstens ebenso sehr interessiert wie für das Werk, das zur Verhandlung steht. Porträts werden vor allem gewünscht, mehr und mehr Fragen nach Privatem gestellt. Und schlimmer noch: Wo ich sehr sorgfältig meine Worte wähle, werden sie anders wiedergegeben. Wo ich bewusst keine Auskunft gebe, wird von den Journalisten aus einer sorglosen Erwartungshaltung heraus ergänzt. Und damit stehe ich vor einem Dilemma: Widerspreche ich nicht, steht eine von mir »gebilligte« Lüge im Raum. Wenn ich aber widerspreche und richtigstelle, muss ich öffentlich intimste Details meines Privatlebens verhandeln, und das empfinde ich als absolut unzumutbar.
Dieses Eindringen des öffentlichen Interesses in die Privatsphäre von Literaten scheint mir ein neueres Phänomen. Niemand hat mich 1995, als mein erster Roman erschien, mit Fragen nach meinen Eltern oder Großeltern und deren weltanschaulichen Meinungen behelligt. Heute stehe ich beispielsweise auf der Buchmesse einer wildfremden Besucherin gegenüber und werde gefragt, ob meine Mutter jüdisch ist. In der Ankündigung einer Rundfunksendung lese ich mit größtem Missvergnügen, dass meine Frau konvertiert sei. Wohin soll das noch führen?
Heute, so scheint es, muss man als Autor den Seelenstripper geben, als wäre man selbst das »Kunstwerk« und nicht die Literatur, die man vorgelegt hat. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Der Literatur oder auch nur ihrem Verständnis dient das sicher nicht.
Am 4. Juni 2010 um 02:50 Uhr
Endlich.
Am 4. Juni 2010 um 09:46 Uhr
chapeau
Am 4. Juni 2010 um 09:56 Uhr
Na, geht doch…! – Nee, im Ernst bzw. mehr gibt es doch dazu auch im grunde nicht zu sagen, wie:
Ich las den Talmud und wußte, hier bin ich zu Hause (s. ZEIT-Porträt). Und fertig ist doch die Laube, oder, oder nicht…?
Wie kam’s denn eigentlich…? ;-)
Am 4. Juni 2010 um 09:58 Uhr
Autor kreischt!
Am 4. Juni 2010 um 10:07 Uhr
Aha. Iche verstehe…! – Jawoll, mach‘ kaputt, was dich kaputt macht oder droht es zu tun…!
Jedenfalls, alles „richtig“ gemacht, wie ich finde. Und den möglichen „Fahrtwind“ der „Erbsenzähler“ (Tschuldigung), der kann Dir nüschte nix anhaben…!
Außerdem: „wir“ sind ja auch noch da, wa…? ;-)
Am 4. Juni 2010 um 10:28 Uhr
In Zukunft kannst Du bei solchen Fragen mitteilen, dass es im Judentum dazu eine wichtige Schutzregel gibt: „Sobald jemand übergetreten ist, darf das nicht mehr erwähnt werden (um ihn vor Unannehmlichkeiten zu bewahren und weil er ab da als „vollständiger“ Jude gilt).“
Und aus Höflichkeit kannst Du ja dann auf den turmsegler verweisen. Dann musst Du gar nichts mehr erklären.
Am 4. Juni 2010 um 10:30 Uhr
Ich hätte dazu jetzt eine Menge Fragen, will aber den Journalisten nicht weiteres Futter geben. Nur so viel: Die Christen haben gegenüber den Juden einen Vorteil: Sie sind allesamt Konvertiten, denn sie werden nicht als Christen geboren, sondern als Sünder, haha.
Am 4. Juni 2010 um 10:34 Uhr
Es genügt auch ein Widerspruch ohne richtig zu stellen.
Am 4. Juni 2010 um 17:09 Uhr
So viel zu Freud. So weit, so gut. Aber im Umgang mit der „fremden“ Seele unentschuldbar.
Am 7. Juni 2010 um 23:36 Uhr
Lese es erst heute und bin froh :-)
Am 9. Juni 2010 um 09:47 Uhr
Auszug aus John Irving: Letzte Nacht in Twisted River, 2010, S. 207:
Am 11. Juni 2010 um 20:41 Uhr
Ich ziehe respektvoll den Hut!
Ausserdem habe ich – ebenfalls am 9. Juni, ob man mir das glauben mag oder nicht – ebenfalls bei der Lektüre von John Irvings „Letzte Nacht in Twisted River“, allerdings auf Seite 498, ebenfalls ein Zitat vorgemerkt, dass ich ebenfalls hier als Kommentar posten wollte. „Ebenfalls“ ist eigentlich ein seltsames Wort. Egal, hier das Zitat:
Am 14. Juni 2010 um 17:13 Uhr
[…] Bekannte – jüdische wie nichtjüdische -auf meinen Artikel vom 3. Juni angesprochen (»Der Autor als Seelenstripper«), und das Feedback ist durch die Bank verständnisvoll und unterstützend, was mich […]
Am 20. Juni 2010 um 11:46 Uhr
[…] (An dieser Stelle möchte ich mich bei Benjamin Stein bedanken, der durch seine Beiträge auf dem Turmsegler, durch seine Offenheit im Umgang mit seiner jüdischen Religion und durch seine Bereitschaft, sich wiederholt mit mir auf ein Gespräch einzulassen, tiefen Eindruck gemacht und mir den Weg gewiesen hat. Was mich an ihm und an seinem Umgang mit Religion überzeugt hat, ist, dass sein Glaube zugleich glaubwürdige Poetik ist.) […]
Am 3. Dezember 2010 um 10:13 Uhr
Aber wenn die Mutter halachisch jüdisch ist, sind die Kinder doch nicht nichtjüdisch? Die Eheschliessung hat doch damit gar nichts zu tun…
Bist Du nochmal konvertiert, weil Du in der Einheitsgemeinde nicht akzeptiert wurdest, oder aus Überzeugung? ;) (Ist nur ein Scherz)
Was Du leider gar nicht geschrieben hast, ist warum Du überhaupt konvertiert bist, also über das/ die Motiv/e.
Ich hoffe auf jeden Fall, Du hast nun Deinen Platz gefunden!
Gut Schabbes wünscht
Reisel
Am 3. Dezember 2010 um 11:15 Uhr
Wie oben beschrieben ist das eben leider eine Frage der Anerkennung der »Papiere« durch diese oder jene religiöse Instanz.
Am 6. Juni 2011 um 21:52 Uhr
[…] Blog von Benjamin Stein ist übrigens hier. Und das ist der Post, in dem Herr Stein gesteht, wie er zum Judentum konvertiert ist. Dieser Eintrag […]
Am 28. August 2011 um 22:06 Uhr
Ich fürchte, dass in den Medien das Adjektiv „jüdisch“ „deutsch-jüdisch“ „jüdisch-orthodox“ als Verkaufsargument für Ihre Bücher ausgeschlachtet wird, und das wird der Grund sein, warum die Leute dann genauer nachfragen.
Sie waren ja auch Informatik-Journalist. Ich nehme an, dass in diesem Zusammenhang sich niemand für ihre Religion interessiert hat, oder wie Sie dazu gekommen sind: weil es einfach nicht relevant war für das Thema.
Bei einem Buch wie „Leinwand“ (wenn ich recht verstehe eine literarische Verarbeigung des FAlls Dösseker) scheint es sehr wohl Themenrelevant zu sein. Daher würde ich empfehlen, so zu kommunizieren, dass keine Missverständnisse entstehen…