Oulipo oder Hunderttausend Milliarden Gedichte

2. Mai 2010

••• »Oulipo« ist ein Akronym. Es steht für »L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle«, also »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Es bezeichnet auch einen Autorenkreis, gegründet 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau, dem sich Surrealisten ebenso anschlossen wie Mitglieder des logenartigen »Collège de ’Pataphysique« und die Mathematiker des Kollektivs »Nicolas Bourbaki« (ein Gemeinschaftspseudonym).

Die Potentielle Literatur basiert auf dem Credo: Kein Spiel ohne Regeln. Nun könnte man sagen, Sprache an sich sei bereits ein Regelwerk. Mag sein, antworten die Oulipiens, aber: Die Festlegung von Regeln, die (auch) über das System Sprache hinausgehen (also etwa Vokabular oder Grammatik), würden durch bewusste Beschränkung einen neuen Verständnishorizont eröffnen. Die Regeln können mathematischer Natur sein (daher das Interesse der Mathematiker) oder auch poetologisch.

Ein Beispiel für eine sprachliche Beschränkungsregel wäre etwa das Leipogramm (auch: Lipogramm), der Verzicht auf die Verwendung bestimmter Buchstaben, ein Stilmittel, das sich bis in die griechische Dichtung des 6. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.

Komplexerer Natur ist die Erweiterung bestehender Regelwerke etwa der Sonettenform. So legte Raymond Queneau beispielsweise einen Sonettenkranz von 10 Sonetten vor, die nicht nur alle nach dem gleichen Reimschema, sondern auch auf gleiche Endreimlaute hin komponiert sind. Damit ergibt sich nicht nur wie beim üblichen Sonettenkranz aus den Anfangszeilen von 14 Sonetten ein Meistersonett; vielmehr ließen Queneaus 10 Sonette durch die spezielle Reimform 1014 Kombinationsmöglichkeiten von Einzelzeilen zu je einem neuen Sonett zu. Das Werk trug dementsprechend auch den Titel: »Hunderttausend Milliarden Gedichte«.

Markus A. Hediger, Turmseglern durch seine Gastkolumnen »Krötenwanderung« und »Graupausen« ein Begriff, hat Oulipo als Werkzeug für sich wiederentdeckt und zwar für eine erneute, vertiefende und neue Akzente setzende bzw. Akzente verschiebende Lektüre von Bibeltexten. Begonnen hat er mit dem Buch »Genesis«. Basierend auf der Luther-Übersetzung hat er zunächst Analysen über die Häufigkeit bestimmter Buchstaben im Text angestellt. Im Anschluss hat er den Versuch unternommen, Abschnitte aus mehreren Versen leipogrammatisch nachzuerzählen. Die Methode soll hier zur Versenkung in den Text und zu dessen intensiven gedanklichen Durchdringung zwingen.

Wer Markus A. Hedigers Auseinandersetzung mit den christlichen Basistexten bereits ein wenig länger verfolgt, der weiß, dass dies nicht sein erster Versuch ist, sich »Eden« anzunähern. Ich war zunächst außerordentlich skeptisch, ob man sich mit einer solchen Methode dem Text adäquat nähern kann. Trotz aller Skepsis sind die ersten Ergebnisse seiner Versuche, die er auf seinem (dafür neu gestarteten) Weblog »Nach Eden« unternimmt, theologisch und poetisch interessant. Noch spannender wären seine Beispiele, wenn er uns Einblicke gestatten würde in Auswirkungen, die seine Oulipo-Experimente auf sein Verständnis der so bearbeiteten Textpassagen gehabt haben.

Auf jeden Fall landet »Nach Eden« erneut »Auf der Rolle«.

Eine Reaktion zu “Oulipo oder Hunderttausend Milliarden Gedichte”

  1. Markus A. Hediger

    Noch spannender wären seine Beispiele, wenn er uns Einblicke gestatten würde in Auswirkungen, die seine Oulipo-Experimente auf sein Verständnis der so bearbeiteten Textpassagen gehabt haben.

    Das habe ich mir auch schon überlegt, aber was dabei in mir „abgeht“, rührt zu sehr ans Persönliche. Dafür finde ich zum einen oft keine Worte, zum anderen ist mir dieser „religiöse“ Bereich, wenn man ihn denn so nennen will, etwas, das ich noch schützen will oder muss. Ausserdem bin ich noch blutiger Anfänger in der Oulipo-Kunst. Wahrscheinlich werde ich, vorausgesetzt, ich halte das die ganzen 66 Bücher der Lutherbibel durch, dann nochmals von vorne beginnen.

    Ich lege aber jedem solche Übungen mit ihm lieb gewordenen, heiligen Texten ans Herz – seien es nun religiöse Texte oder Gedichte.

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