Ausnahmezustand

22. März 2010

••• Ich befinde mich noch im emotionalen Ausnahmezustand. Gestern Nacht um 01:00 kam ich mit der Herzdame von der Buchmesse in Leipzig zurück. Es waren aufregende, inspirierende Tage. Mehrere enthusiastische Leser des »Alphabets« haben mich am Beck-Stand, am ZEIT-Stand und auf den Veranstaltungen angesprochen. Dass man sich nach so langer Zeit noch so emotional an mein Debüt erinnert, hat mich überrascht und gleichzeitig gefreut, ja beflügelt.

Ich muss die Eindrücke erst einmal ordnen. Aber über den »Empfang per Rezension«, den ich am 18. März erleben durfte, will ich doch schon berichten. Denn die zur Buchmesse erschienenen Besprechungen setzen sich tiefgründig mit der »Leinwand« auseinander, und das ist – keine Koketterie! – wichtiger als ein positives Urteil des Rezensenten.

Den Auftakt präsentierte die Weltwoche mit dem Artikel »Fernduell« von Hans-Peter Kunisch. Im Untertitel gibt Kunisch sich streng:

Die Weltwoche enttarnte den Holocaust-Schwindler Wilkomirski. Benjamin Stein verarbeitet die Geschichte in seinem Roman «Die Leinwand». Viel zu unkritisch.

Gerade weil die »Weltwoche« seinerzeit Ganzfrieds Enthüllungsartikel gebracht hatte, musste ich dieser (angekündigten) Rezension mit gemischten Gefühlen entgegensehen. Natürlich stellt Kunisch fest, dass Ganzfried und die »Weltwoche« »Recht hatten«. Das war nicht anders zu erwarten. Verdienstvoll finde ich, dass er die Schlüsselroman-Dimension aufzeigt – sogar gestützt auf Recherchen im »Turmsegler«. Dass er bei diesem Sezieren völlig zu übersehen scheint, dass der Fall hier lediglich als Vorlage für eine literarische Auseinandersetzung mit den Problemfeldern Erinnerung und Identitätsfindung gedient hat – geschenkt, denn Kunisch zeigt die Bezüge auf. Das ist interessant und macht Lust zum Lesen. Ein Urteil kann sich dann der Leser bilden.

Die »Jüdische Allgemeine« brachte die Rezension zur »Leinwand« unter dem Titel »Im Irrgarten des Erinnerns« (leider noch nicht online) als Aufmacher der Literaturbeilage. Jörg Sundermeier fördert ebenfalls eine Dimension zutage, die in den bisherigen Besprechungen noch nicht angesprochen wurde:

Auf diese Weise rührt Stein an das Wesen der Dichtung selbst – was ist wahr und was ist falsch in Texten? Sind Wahr und Falsch richtige Kriterien zur Beurteilung von Literatur? […] Steins in einem ungemein schönen Deutsch verfasster, zugleich tiefgläubiger und sprachskeptischer Roman handelt vom geschriebenen Wort selbst und davon, wie Geschichten zu Geschichten werden. […] Dass es am Ende keinen Schluss gibt, sondern offene Fragen, ist kein Manko. Denn der Leser folgt dem Autor durch diesen Irrgarten des Erinnerns mit großer Begeisterung. Benjamin Steins Buch endet, wie wir es uns als Kinder gewünscht haben: Es hört einfach nicht auf, sondern lebt in uns nach. (Jörg Sundermeier)

Sehr tiefgründig und warmherzig fiel auch die Besprechung in der »Berliner Zeitung« vom 18. 3. aus. Anke Westphal weist ebenfalls auf einen bislang so nicht angesprochenen Aspekt hin – das Identität stiftende Element allen Erzählens:

[…] man wird überaus reich belohnt von diesem Roman. Er ist nämlich ein kleines Wunder, und das fängt schon bei der knappen, ausschnitthaften Schilderung einer Kindheit und Jugend in der DDR an. Selten las man so wahrhaftige, präzise Formulierungen über die 80er-Jahre dort, auch wenn die nur einen groben Rahmen bilden zu dem eigentlichen Geschehen. […] Das alles ist spannend, fast ein Kriminalroman, und dabei ungeheuer klug. Denn über die Kunst des Erzählens finden wir ja erst zu uns selbst, klären wir, wer wir einmal waren und wer wir jetzt sind. Durch das Erzählen reklamieren wir die Welt für uns. Das Entscheidende ist einzig, dass wir selbst unsere Geschichte erzählen – und niemand anderer sonst. (Anke Westphal)

Muss ich erwähnen, dass ich sehr beschwingt in den ersten Messetag gestartet bin?

5 Reaktionen zu “Ausnahmezustand”

  1. Dorit

    Lieber Benjamin,
    na wunderbar, daß die Leipziger Buchmesse so jut lief für Dich und die Leinwand…!!!!

    Und was die emotionalen Ausnahmezustände betrifft, da hatte Deine Herzdame (also Du, liebe Kerstin), Du hattest ja hoffentlich die Notfalltropfen dabei…?!!! :-)

    Ich erinnere mich zumindest daran irgendwie, daß Du, Kerstin, auf diesen Seiten mal darauf hinwiesest, daß Du die Troppen an den Start bringen könnest im Fall der Fälle…?

    Na wie auch immer bzw. nu gucken wir mal, wie Dir (und dem Buch) Berlin zu Füßen liegen wird am 14.04., oder…? – Iche seh‘ da keine Probleme, ehrlich gesagt, bist ja außerdem auch dazu noch ein exzellenter Vorleser…!

    So, nun genug der „Beweihräucherung“…! :-)

    Liebe Grüße an Euch beide,
    Dorit

  2. ksklein

    Inzwischen sind wir auf Notfallbonbons umgestiegen. Die sind unauffälliger. ;)

  3. Dorit

    Liebe Kerstin,
    das ist eine gute Idee, wußte gar nicht, daß es die Tropfen auch in „kristalliner“ Ausführung gibt… :-)

    Apropos: hast Du Dein „Rot-Projekt“ noch? Ich habe da noch einen Beitrag für Dich, wollte ich Dir schon immer mal zukommen lassen, aber wie (hier ist ja nicht das Forum dafür, denke ich)…? Ist keine große Sache, nur ein (Gedanken)Splitter, wenn man so will.

    Liebe Grüße + einen schönen Tag Dir (hier lacht schon die Sonne…!!!),
    Dorit

  4. ksklein

    Oh… das wäre toll… Und Splitter sind gut. Es sollen ja eher kleine, spontane Dinge sein. Mir fehlen noch jede Menge Leute, deshalb freue ich mich besonders, wenn Du mitmachst. Bin gespannt.

    LG
    Kerstin

  5. Dorit

    Ja, ist wirklich ein Splitter, ist auch nicht von mir, sondern von „uns“ Herbert (Grönemeyer)…, aus seinem Lied „Ein Stück vom Himmel“.

    Für dieses Lied ist er viel gescholten- bzw. genaugenommen ist es ihm um die Ohren gehauen worden. – Nun, dann isses eben so + eigentlich kein „Beinbruch“. Entweder man hat / findet einen Zugang oder eben nicht…

    Also nun aus „Ein Stück vom Himmel“. – Höre es Dir aber unbedingt und ganz an, das Lied, dann geht’s erst so richtig nach vorne los und haut ‚rein ins emotionale Kontor… (»» hier kannste gleich hören, wenn Du möchtest):

    Nöte, Legenden
    Schicksale, Leben und Tod
    Glückliche Enden
    Lust und Trost
    Ein Stück vom Himmel
    Der Platz von Gott
    Es gibt Milliarden Farben
    und jede ist ein anderes Rot
    Dies ist Dein Heim
    Dies ist unsere Zeit
    Wir machen vieles richtig
    Doch wir machens uns nicht leicht
    Dies ist mein Haus
    Dies ist mein Ziel
    Wer nichts beweist
    Der beweist schon verdammt viel

    So, das mal dazu. Ich wäre übrigens mein eigenes Blau (kann Morgen etc. natürlich schon anders sein). Welche Farbe wärest denn Du…? :-)

    Apropos: habe soeben gemerkt (ist kein Witz!), daß ich Herbert immer so verstanden, habe wie ich will: er singt ja JEDE ist EIN eigenes Rot… Ich habe immer verstanden (bzw. assoziiert wohl) JEDER ist SEIN eigenes Rot…!

    So kann’s gehen bzw.: Grönemeyer singt aber auch undeutlich manchmal (oder anders: singt der eigentlich überhaupt…?)

    Jedenfalls: Danke, liebe Kerstin, nun weiß ich, daß ich seit ca. einem Jahr einem Irrtum aufgesessen bin…! – Und das „schlimmste“, ich habe ihn, also Grönemeyer jetzt, auch immer genauso zitiert…!

    Apropos II: Sehe gerade noch was…: Es kann alles so überhaupt nicht nicht an Grönemeyer liegen. Er spricht ja auch überhaupt nicht von „eigenem Rot“, sondern „anderem Rot“…!!!

    Also es ist wie bei Pippi Langstrumpf: Ich mach‘ die Welt auch wie sie mir gefällt, oder (sieht zumindest danach aus)…? :-)

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