»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger
… translation always involves an encounter, if not a confrontation…
Rainer Kohlmayer
in: »Der Literaturübersetzer zwischen Original und Markt«
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Herr Grau hat der befremdlichen Begegnung mit seiner Heimat im Institut für Kulturvermittlung und –förderung nach einigem Ringen etwas Positives abgewinnen können: Wenn, so fragt er sich, ich mich in meiner eigenen Heimat nicht mehr Zuhause fühle, bedeutet das nicht, dass ich mit meinem Übersetzungsprojekt weiter vorangeschritten wäre, als ich dachte? Bruanien und die Lebensart seiner Bewohner muss mir bereits ein bisschen ans Herz gewachsen sein, sonst hätte ich mich doch nicht wie ein Fremder auf heimischem Boden gefühlt? Dieser Befund ermutigt Herrn Grau, und voller Elan beschließt er, seine Übersetzung nun noch dezidierter – und vor allem systematisch – voranzutreiben.
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Eins ums andere, nimmt er sich vor, werde er von seiner Person auf Bruanesisch zu Papier bringen. Zuerst erstellt er eine Liste aller Eigenschaften und Aspekte, die ihm wichtig erscheinen und auch in der bruanesischen Version seiner Person nicht fehlen sollten. Die Liste ist nicht allzu lang, er wird, so hofft er, also nicht allzu lange mit seiner Übersetzung beschäftigt sein. Draußen zieht eine Horde bruanesischer Fußballfans vorbei, doch diesmal mag er sich darüber nicht ärgern. Herr Grau unterbricht sogar kurz seine Arbeit, tritt ans Fenster und winkt der lauten Meute freundlich anfeuernd zu. Diese großzügige Geste hellt seine Stimmung noch zusätzlich etwas auf. Beschwingt schließt Herr Grau das Fenster und kehrt an den Schreibtisch zurück.
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Herr Grau hat es sich einfach vorgestellt: das, was in seinem Kopf an Gedanken vorhanden ist, eins zu eins ins Bruanesische übersetzen; für jene Wörter, für die das Bruanesische keine deckungsgleiche Entsprechung bietet, einfach einen Ausdruck wählen, der in etwa den ursprünglichen Sinn wiedergibt; für jene Eigenschaften, die dem bruanesischen Geist und Empfinden fremd sind, sich in Gottes Namen eben die Mühe machen und sie so gut wie möglich be- oder umschreiben. Doch kaum hat Herr Grau den ersten Satz zu Papier gebracht, stößt er auf ein unerwartetes Problem.
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Das Bruanesische kennt keine Haupt- und Neben-, sondern nur über- und untergeordnete Sätze. Was auf den ersten Blick wie ein harmloses terminologisches Problem aussieht, entpuppt sich bald als ein zutiefst verstörendes Dilemma.
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Er, der nicht gerne über sich selbst spricht, hat es sich in seiner Muttersprache angewöhnt, sich, sobald das Gespräch zu persönlich zu werden droht, in Nebensätze zu flüchten und dort ein Thema aufzugreifen, das die Aufmerksamkeit von ihm weg auf Nebensächliches lenkt, dieses in den Focus rückt und so bald vergessen macht, worum es in dem Satz anfänglich überhaupt ging. Herr Grau rechtfertigte diese Taktik bislang damit, dass er ja nicht isoliert Bestand habe, sondern eingebettet sei in ein Ganzes, es wisse mittlerweile doch jeder Mensch, dass die Welt sich nicht um ihn drehe, sondern der Mensch sich mit der Welt, wozu also diese überbewertete Ichbezogenheit, es gibt schließlich Wichtigeres zu verhandeln als das Schicksal eines Einzelnen.
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Ein untergeordneter Satz hingegen erlaubt nie, das ihm Übergeordnete aus dem Blick zu verlieren. Egal, wie weit man sich von ihm auch entfernt, immer ragt es über allem hinaus und macht es einem unmöglich, aus seinem Schatten zu treten. So sieht sich Herr Grau plötzlich gezwungen, über sich selbst zu schreiben. Sein Name am Satzanfang, der nichts weiter hätte sein sollen als ein Anlass, sich von ihm zu entfernen, steht unübersehbar da und was auch immer Herr Grau zu Papier zu bringen versucht – alles führt ihn zu sich selbst zurück. Verzweifelt versucht Herr Grau, sich zu entkommen, doch im Bruanesischen ist der untergeordnete vom übergeordneten Satz nicht einmal durch ein Komma getrennt, nichts also bietet diese Sprache, hinter dem er sich verstecken könnte.
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Getrieben von seinem eigenen Schatten flüchtet Herr Grau Hals über Kopf vor seinem eigenen Namen in den Satz hinein und es ist ihm bald egal ob er sich noch immer in den Strukturen des Übergeordneten bewegt oder längst schon in untergeordneten Argumenten verläuft denn er hat nur die eine vage Vorstellung im Kopf die ihm Schutz in Form eines Verstecks verspricht welches er aber nicht zu finden imstande ist weil das Bruanesische eine Sprache der Offenlegung ist und sich zum Vertuschen anderer Mittel bedient mit denen Herr Grau aber nicht vertraut ist und es ist wie verhext wie er sich durch das Bruanesische immer wieder gezwungen sieht zu seinem Namen zurückkehren als flatterten seine Gedanken wie Motten ums Licht… Nichts wie weg hier, denkt Herr Grau nach Luft schnappend und stürzt zur Tür hinaus auf die Straße.
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Hinaus auf die Straße, wo er schließlich völlig außer Atem zusammenbricht.
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Mit einer Sauerstoffmaske vor dem Gesicht kommt Herr Grau im Behandlungszimmer seines Arztes wieder zu sich. Doch noch ist er zu verwirrt, um auf die Fragen des Doktors eine klare Antwort geben zu können. Erst als dieser ihm ein Beruhigungsmittel spritzt, gelingt es ihm, die Ursache seines Unwohlseins zu erklären. Da lacht der Arzt auf, greift sich ein Buch aus dem Regal und drückt ihm eine Bruanesische Grammatik in die Hand: Studieren Sie dieses Buch, Herr Grau. Sie werden sehen, dass wir Bruanier nicht gänzlich auf Kommas verzichten. Zwar sind, zugegeben, die Regeln für deren Einsatz nicht sehr klar, um es gelinde auszudrücken, aber wir setzen doch jedes Mal eines, wenn uns die Luft auszugehen droht.