Herr Graus Höhenangst

19. Februar 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… Translation always involves cultural translation.
Cristina Ungureanu
in: »Equivalence. Theory & Text Analysis« (Word-Datei)

1
Die vom Arzt verordnete Nackenmassage hat Herrn Grau gut getan. Noch immer spürt er die kräftigen aber geschmeidigen Hände des Physiotherapeuten auf seinen verhärteten Muskeln. Wie er da bäuchlings auf dem Schragen lag und durchgewalkt wurde – die bloße Erinnerung daran jagt ihm einen wohligen Schauer vom Nacken bis ins Steißbein hinab. Es entgeht ihm auch nicht, dass er Geringfügigkeiten, an denen er sich bislang immer störte, jetzt gelassener hinnimmt. Nur um ein Beispiel zu nennen: Seit seiner Ankunft in Bruanien hat er sich wegen seiner ins Farblose gehenden Haut unwohl gefühlt und sie dafür verantwortlich gemacht, dass er keinen Anschluss zu den Einheimischen fand. Ihretwegen erkannte man in ihm sofort einen Fremden.

2
Seit der Massage hat seine Haut einen Stich ins Rosige hinzugewonnen. Nicht, dass das der Neugierde der Bruanier einen Abbruch täte. Verlässt er für Besorgungen die Wohnung, zieht er nach wie vor die Blicke auf sich. Aber jetzt stört er sich nicht länger daran. Sollen sie doch gaffen, denkt Herr Grau grimmig. Macht das doch gerade eine gute Übersetzung aus: dass darin das Original nicht zu einer Kopie verkommt.

3
Übrigens, ruft er sich in Erinnerung, während er sich zu Fuß auf dem Weg ins Stadtzentrum macht, hätte es auch viel schlimmer kommen können. Es soll ja Kulturen geben, denen grundlegende Werte, wie sie jede Zivilisation kennt, völlig fremd sind. Herr Grau, zum Beispiel, leidet unter einer besonders ausgeprägten Form von Höhenangst. Panik erfasst ihn nicht nur, wenn er auf den Balkon hinaustritt oder einen dieser modernen gläsernen Fahrstühle besteigt, er verspürt den Sog der Tiefe selbst dann, wenn er mit beiden Füssen auf dem Boden steht und in die Höhe blickt. Es ist ein äußerst unangenehmes Gefühl, das ihn dann überkommt, eine Mischung aus Schwindel und Atemnot, Herzrasen und Brustklemmen, weshalb er jeden Blick hinauf in den Himmel vermeidet.

4
Die Schicksalsschläge, die Herrn Grau aus seiner Heimat vertrieben, kamen alle aus heiterem Himmel. Noch heute kann er sich nicht erklären, womit er das verdient haben könnte, was er sich hätte zuschulden kommen lassen haben, um eine solche Strafe zu verdienen. Wie um ihn nicht vergessen zu lassen, dass es Mächte gibt, die größer sind als er, schiebt der Himmel sich seither unübersehbar in jeden noch so schmalen Spalt, der sich zwischen den Wolkenkratzern auftut, spiegelt sich in Bürofenstern und Windschutzscheiben und reflektiert sich in der Farbe des Meeres.

5
Der gesenkte Blick ist Herrn Grau so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sich anders gar nicht mehr sehen kann.

6
Der Versuch, sich einer Kultur verständlich zu machen, die keinen Blick für die Bedrohungen hat, die vom Himmel ausgehen, wäre von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch zu Herrn Graus Glück sind die Bruanier ein religiöses Volk und mit den Gefahren des Überirdischen wohlvertraut.

7
Je näher Herr Grau dem Stadtzentrum kommt, desto öfter muss er den improvisierten Verkaufsständen fliegender Händler ausweichen, die ihre billige Ware illegal auf den Bürgersteigen an den Mann zu bringen versuchen. Auch wenn die Hindernisse unvermittelt in sein auf ein Fleckchen Boden beschränktes Blickfeld treten und ihn zu abrupten Ausweichmanövern zwingen, lässt er sich heute nicht aus der Ruhe bringen, zumal sein Nacken nach der heutigen Massage die plötzlichen Richtungswechsel ohne Aufmucken wegsteckt.

8
Gerade noch rechtzeitig springt Herr Grau zur Seite. Fast wäre er mit einem dieser Verkäufer kollidiert. Glück gehabt! atmet Herr Grau auf und will weiter. Doch da steht der Verkäufer wieder vor ihm, redet auf ihn ein und zeigt dabei immer wieder zum Himmel hinauf. Wiederholt versucht Herr Grau ihm klarzumachen, dass er nicht in Kaufstimmung sei, der Verkäufer aber will sich mit einem Nein nicht abfinden. Herr Grau bemüht sich, die Fassung nicht zu verlieren. Als der Verkäufer aber den in den Himmel gereckten Finger senkt und Herrn Grau damit auf die Stirn tippt, platzt diesem der Kragen. Dass er Ausländer sei, bedeute noch lange nicht, dass er auch bereit sei, sein Geld zu verschleudern! fährt er den Verkäufer an und schlägt ihm die Sonnencréme aus der Hand.

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