Buchhandel im Jahr 2020

4. Februar 2010

••• Wie wird der Buchhandel im Jahr 2020 aussehen? Diese Frage stellen Arnd Roszinsky-Terjung und Andreas Meyer in der aktuellen Ausgabe des Branchenmagazins »BuchMarkt« (01/2010). Der Beitrag richtet sich an Buchhändler und Verlage, jene, für die das Verständnis des Buches als Ware überlebenswichtig ist. Die Autoren stellen fest, dass es nicht um die Frage geht, wie die Zukunft des Mediums Buch – gegenüber etwa Hörbüchern oder eBooks – aussehen könnte, sondern darum, wie die Buchbranche künftig ihre Kernkompetenz definiert.

Das Hauptproblem, so die Autoren, sei nicht der Medienwechsel, sondern der Wandel des Lesers und der Wandel der sozialen Funktion, die Lesen bislang erfüllte. Die zunehmende Bedeutung des Internets und des Multitasking-Lesens von Informationshäppchen führe zum »nervösen Leser«, einem Leser, der schon bald gar nicht mehr in der Lage sein wird, etwa einen Faulkner-Roman zu lesen. Auch diene das Lesen von Büchern immer weniger der Wissensaneignung – und damit potentiellem sozialen Aufstieg – sondern werde sich mehr und mehr zum (gern auch anspruchsvollen) Entertainment entwickeln: Belohnung durch Lesen, das Buch als »Luxusgut«.

Dem »Strukturbruch« im Buchhandel würde ein »Rezeptionsbruch« folgen. Wer künftig noch liest, wird aus anderen Antrieben und auf andere Art und Weise lesen als heute.

Dabei ginge es um

[…] eine ebenso uralte wie neue Form von Lesen: die dissoziative und transzendierende, hier verkürzt als »komplexe« oder »Tiefenschicht«-Rezeptionsfähigkeit bezeichnet [und letztlich] […] am Widerspruch geschulte Lesemenschen […] »die Produktion von Dissenz«. […]

Der stationäre und Internet-Handel mit Büchern und buchähnlichen Medien benötigt in Zukunft Angebote, die maximale Neugierde auslösen und maximale Nachhaltigkeit bieten, zugleich (Design-) Objektcharakter haben und damit als anspruchsvolle Geschenke taugen. Kurz: die einen überzeugenden Kontrapunkt zu Multitasking-Inhalten anbieten.

Als Autor interessieren mich weniger die Folgen solcher Entwicklungen für die Großsortimenter – die am meisten leiden werden darunter – sondern mich interessiert, ob und welche Folgen dies für die Literatur selbst haben könnte und gar haben muss – kompositorische Folgen, Formfragen.

Letztlich wäre eine solche Entwicklung gut für die Literatur. Vielleicht weniger, aber interessiertere und fokussierte Leser. Und weniger Schund. Denn auch daran lassen die Autoren keinen Zweifel:

[…] die industrieähnliche Content-Produktion der großen Verlagsgruppen zielt immer stärker ins Leere: zuviel vom Gleichen, ein Mangel an starken (Autoren-) Marken und Zielgruppen-Welten – kurz: zuviel Austauschbares, zu viel Verwirrendes, zu viel Flaches und Enttäuschendes.

Den gesamten Beitrag gibt es als PDF hier zum Download (Backup »» hier). Der Artikel ist lang und triefgründig, also nichts für Häppchen-Leser-Multitasker. Wer ihn dennoch liest, wird mit Inspiration belohnt.

2 Reaktionen zu “Buchhandel im Jahr 2020”

  1. hf

    In dem PDF-Artikel werden in der Diskussion um die Zukunftszenarien der „Buchindustrie“ einige Thesen aufgestellt, die meiner Kritik bedürfen.
    Die beschriebene „Kollabierung des Lesens“ ist gänzlich unbelegte Panikmache. Das Buch wird als Form des schriftsprachlichen Ausdrucks nicht verschwinden in absehbarer Zeit.

    — „Profan“ oder „funktional“ war Kommunikation schon immer (meistens)

    Zäumen wir mal das Pferd andersherum auf.

    Die komplexe Gesellschaft der Menschheit bedarf komplexer (auch symbolischer) Interaktion. Schon in grauer Vorzeit wurde diese Interaktion anspruchsvoll genug, Symbole für abstrakte Dinge einzuführen. Inheränte Probleme waren dabei schon immer Interpretation und Speicherung.

    Ein großer Durchbruch hinsichtlich der Speicherung – wenigstens eines kleinen Teiles von symbolischen Strömen – war die Schriftsprache. Beschränkt aber mächtig (insbesondere weil sie dauerhafter war). Einen wahren Triumpfzug erlebte sie in der technologisch ermöglichten Gutenberg-Galaxis.

    Nichts sollte jedoch darüber hinwegtäuschen, dass zu all den Zeiten der Umfang an „profaner“ ;-) symbolischer Alltagsinteraktion exorbitant größer war, als sich in Schriftstücken oder gar Büchern befindet. Für diese „Alltagskommunikation“ gab es einen wichtigen technologischen Wandel mit dem Telefon, besser noch: dem (must have) Mobiltelefon.

    Nach dem vergleichsweise geringen Ausmaß von (Papier-)Briefen bringen heutzutage SMS, Email und Instant Messaging (bis Twitter) einen Teil dieser Alltagsflut in speicherbare Schriftsprache. Die Dominanz des „Profanen“ wurde zunächst einfach nur sichtbarer in den bereits schon anderweitig genutzten Medien.

    Lange Rede, kurzer Sinn: Wir brauchen keine Angst vor dem „Profanen“ zu haben. Es war schon immer da. Es war schon immer dominant. Die Frage ist also nicht, ob es dominiert, sondern wie und wo sich die „anspruchsvollere (symbolische) Interaktion“ finden lässt. Denn auch deren Bedarf ist ungemindert, denn die komplexere Umwelt erfordert es.

    — „Tiefen-Rezeption“ war und ist die Ausnahme, nicht die Regel

    Vor diesem Hintergrund sieht die unterstellte „Kollabierung des tiefgründigen Lesens“ etwas anders aus.

    Bekritelt wird die scheinbar zunehmende Neigung, oberflächliches Wissen anzueignen statt tiefgründig den breiteren Kontext eines Themas zu erschließen. Stichwort: „Nervöse Leser“.

    Ist das wirklich so? Oder wird eine längst bestehende Dominanz mit der gewachsenen Sichtbarkeit des „Profanen“ oder des (simpel) „Funktionalen“ einfach deutlicher? Eine profunde Langzeit-Untersuchung wäre spannend. Die Verkaufsstatistik von Verlagen ist für eine solche Beurteilung gänzlich unzureichend.

    Das soll jedoch nicht davon ablenken, dass unser schwerfälliges allgemeines Bildungssystem im Umgang mit den neuen (Bildungs-)Medien arge Schwierigkeiten bzw. Blindzonen aufweist. Die Flexibilität des „lebenslangen Lernens“ ist nocht nicht so richtig in den staatlichen Bildungsstrukturen selbst angekommen. Das hat ganz sicher Auswirkungen auf eine „gute“ Handlungsorientierung der Heranwachsenden. Wissenserschließung ist eben nicht mehr damit abgedeckt, Bücher aus der Bibliothek auszuleihen oder eine ARD-Dokumentation anzuschauen. Wenn die Jüngeren also etwas „nervösere“ Rezipienten sind, liegt das vielleicht mehr daran und weniger an einem grundsätzlichen Siechtum der „Tiefen-Rezeption“.

    Für die Bedeutung der „Tiefen-Rezeption“ trägt der gesellschaftliche Anspruch an „fundierter“ Allgemeinbildung die Hauptverantwortung. Tiefgründiges Erschließen von Themen ist seit mit dem Vormarsch der Spezialisierung vor einigen tausend Jahren zwar sowieso nur partiell möglich. Aber die Pisa-Studien liefern das Indiz, dass im Großen und Ganzen an dieser Stelle bei uns die Anforderungen etwas gelitten haben (Arroganz?). Dauerhaft können sich moderne Gesellschaften jedoch einen Rückgang des Bildungsanspruchs nicht leisten. Der Wohlstandsverlust droht.

    Von diesem „materiellen“ Druck her gesehen, besteht derzeit kein Grund zur Annahme eines fortwährenden Abwärtstrends.

    — Das Buch ist nicht tot. Mangels Alternativen

    Die exponierte Stellung des Buches ist schon seit längerem Geschichte. Aber hat deshalb das „geschriebene“ Buch (egal ob gedruckt oder elektronisch) ausgedient? Können die anderen Formen wie Filme, Hörspiele und kurze Hyptertext-Geflechte es ersetzen?

    Nö. Vorerst nur partiell. Denn die anderen Formen haben auch mehr oder weniger inhärente Einschränkungen gegenüber Büchern. Selbst elektronische Bücher gegenüber der Printform. Nicht zu vergessen, dass Filme und Hörspiele meist auf Büchern basieren. Warum wohl?

    Multimediale Publikationen werden dem Buch noch wohlverdient einiges an „Marktanteilen“ abtrotzen. Und die „Virtuelle Realität“ wird es nur neu zusammenführen. Texte im Buchcharakter werden ein Teil davon sein. Bis auf weiteres. Mangels adäquater Alternativen. Es bedürfte revolutionär neuer Schnittstellen des Symbolflusses, die solche Textstrukturen gänzlich ersetzen können. Aber die sind noch ferne Zukunft.

    — Nachtrag: Alte Verlagsstrukturen siechen, es leben Autoren und Rezipienten

    Wer über den Buchmarkt redet, sollte tunlichst zwischen den verschiedenen Interessen unterscheiden.

    Es gibt Verlage, die primär profitmaximierend arbeiten. Für die gibt es schlechte Nachrichten: Die Möglichkeit, auf breiter Front an dem Herstellungs- und Distributionsprozess gut zu verdienen, scheint zu sinken. Siehe Musikmarkt.

    Für Verlage mit Ansprüchen jenseits der Profitmaximierung gibt es gute Nachrichten: Die Möglichkeiten Distributionskanäle für „anspruchsvolle“ Veröffentlichungen zu schaffen, haben sich verbreitert. Elektronische Veröffentlichungen können verkauft werden, auch wenn sie prinzipiell (ungekauft) kopierbar sind. Die ökonomische Rahmenbedingungen sind im Wandel. Wer flexibel ist, kann mit verlegerischer Tätigkeit auch Geld verdienen. Siehe Musikmarkt.

    Und die Autoren?
    Autor zu werden, ist heutzutage einfacher denn je. Ein „anspruchsvoller“ Autor zu sein, ist schwer wie eh und jeh. Ebenso, damit Geld zu verdienen. Aber es geht. Nach wie vor. Nur das Verlagssystem ändert sich. Na und? Wenn die Welt sich ändert, gibt es wiederum einen Haufen Stoff, über den es sich „anspruchsvoll“ zu schreiben lohnt. Ob E-Book, Hypertext, Hörspiele, Filme oder andere medial verschmolzene Publikationen.

    Platon hätte seine Freude daran. Axel Springer vielleicht weniger.

  2. Benjamin Stein

    @hf: Sind Sie sicher, dass Sie die Autoren da recht verstehen? Es geht in dem Beitrag nicht um die Frage, ob das Buch verschwindet, also nicht um die Frage des Mediums. Die Autoren behandeln Fragen vorherrschender Lektürefähigkeiten – vorherrschend, weil sie sich für die Mehrheit, den Markt interessieren.

    Daran schließt sich die Frage nach spezifischen Inhalten an, die dieser Markt fordern könnte.

    Autor zu werden, ist heutzutage einfacher denn je.

    Vielleicht berfördert dies aber nur das Phänomen des „zu viel vom Gleichen“.

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