Der unbegangene Weg

3. Februar 2010

Zwei Wege boten sich mir dar,
Ich nahm den Weg, der weniger begangen war,
und das veränderte mein Leben.

••• Letzte Woche stand ich in der Pause der Honing-Quartet-Session rauchend vor der »Unterfahrt« vor einem Plakat und blieb hängen bei den zitierten Zeilen von Robert Frost. Sie sind so manchem womöglich noch in Erinnerung aus dem Film »Der Club der toten Dichter«. In der deutschen Synchronisation wird eben diese Übersetzung bemüht, die … gefällig ist, sich bei genauerem Hinsehen aber doch ein gutes Stück vom Original entfernt.

The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that, the passing there
Had worn them really about the same.

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I-
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Robert Frost (1874-1963)

Ich habe mich mal nach deutschen Übertragungen umgesehen und bin auf eine sehr schöne Version von Paul Celan gestoßen, in der sich der Nachdichter auf Rhythmus und Stimmung konzentriert und sich dafür vom Reim verabschiedet. Wieviel durch eine solche Entscheidung gewonnen sein kann, habe ich schon einmal hier gezeigt – bei der Übertragung der »Sonette vom Tode« von Gabriela Mistral durch Albert Theile.

Celan also übersetzt so:

In einem gelben Wald, da lief die Straße auseinander,
und ich, betrübt, daß ich, ein Wandrer bleibend, nicht
die beiden Wege gehen konnte, stand
und sah dem einen nach so weit es ging:
bis dorthin, wo er sich im Unterholz verlor.

Und schlug den andern ein, nicht minder schön als jener,
und schritt damit auf dem vielleicht, der höher galt,
denn er war grasig und er wollt begangen sein,
obgleich, was dies betraf, die dort zu gehen pflegten,
sie beide, den und jenen, gleich begangen hatten.

Und beide lagen sie an jenem Morgen gleicherweise
voll Laubes, das kein Schritt noch schwarzgetreten hatte.
Oh, für ein andermal hob ich mir jenen ersten auf!
Doch wissend, wie’s mit Wegen ist, wie Weg zu Weg führt,
erschien mir zweifelhaft, daß ich je wiederkommen würde.

Dies alles sage ich, mit einem Ach darin, dereinst
und irgendwo nach Jahr und Jahr und Jahr:
Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander,
und ich – ich schlug den einen ein, den weniger begangnen,
und dieses war der ganze Unterschied.

Eine weitere, deutlich andere, deswegen jedoch nicht weniger interessante Übertragung ist die von Eric Boerner. Auch Boerner »opfert« den Reim. Ein wenig fragwürdig scheint mir der Titel: »Die verpasste Straße«. Mit ihm entscheidet sich Boerne von vornherein für eine Deutung, die der Originaltitel so gar nicht hergibt und die nach meinem Empfinden der Aussage der Schlussstrophe sogar widerspricht.

Zwei Straßen gingen ab im gelben Wald,
Und leider konnte ich nicht beide reisen,
Da ich nur einer war; ich stand noch lang
Und sah noch nach, so weit es ging, der einen
Bis sie im Unterholz verschwand;

Und nahm die andre, grad so schön gelegen,
Die vielleicht einen bessern Weg versprach,
Denn grasbewachsen kam sie mir entgegen;
Jedoch, so weit es den Verkehr betraf,
So schienen beide gleichsam ausgetreten,

An jenem Morgen lagen beide da
Mit frischen Blättern, noch nicht schwarz getreten.
Hob mir die eine auf für’n andern Tag!
Doch wusste ich, wie’s meist so geht mit Wegen,
Ob ich je wiederkäm, war zweifelhaft.

Es könnte sein, dass ich dies seufzend sag,
Wenn Jahre und Jahrzehnte fortgeschritten:
Zwei Straßen gingen ab im Wald, und da –
Wählt‘ ich jene, die nicht oft beschritten,
Und das hat allen Unterschied gemacht.

19 Reaktionen zu “Der unbegangene Weg”

  1. ksklein

    Rein von der Bedeutung her, habe ich den Schluss so wie Eric Boener verstanden.

  2. The Road Not Taken – Robert Frost | Schattenblume

    […] vielleicht auch noch auf Deutsch das Gedicht lesen will, kann hier zwei Übersetzungen […]

  3. Alexander Kochsiek

    Schade, dass immer das Reimschema verloren geht. Hier mal mein Versuch:

    Die Straße, die ich nicht genommen

    Zwei Straßen gabeln in gelbem Wald
    und leider war nur eine bestimmt
    mir Reisenden, und so schaute ich bald
    die eine entlang, bis sie verhallt
    und mit dem Untergrund verschwimmt.

    Dann nahm ich die andere, so weit so fit,
    und traf vielleicht die bessere Wahl
    denn sie war grasig und wollte den Schritt;
    obleich, nach dem, wie gegangen war mal,
    hatten beide erfahren den gleichen Tritt,

    und an diesem Morgen noch beide gleich waren,
    noch kein Schritt hatte das Laub zerdrückt.
    Ich wollte die erste für’n andermal sparen!
    Wohl wissend, dass Weg führt zu Wegen in Scharen,
    ich zweifelte, ob ich je käme zurück.

    Ich muss dies erzählen mit schwerem Gewicht
    denn irgendwo, Jahre und Jahre hinaus:
    Zwei Straßen gabeln im Walde, und ich –
    nahm die, die man häufig gegangen war nicht,
    und das allein machte den Unterschied aus.

  4. Annemarie Schneider

    Ich habe es ein wenig umgeschrieben.

    Im stillen Wald ging ich spazieren und war so rundum glücklich
    Da trennte sich der Weg vor mir. Welcher Weg ist richtig ?
    Die Frage musste ich mir stellen das war jetzt entscheidend
    Ratlos blickte ich umher und fühlte mich fast leidend.

    Ich sah mir beide Wege an, soweit ich blicken konnte
    Grübelte hin und her welchen ich nun nehmen sollte.
    Der eine war so weich und schön mit frischen Moos besetzt
    Der andere genauso schön, ausgetreten und schön fest.

    Ich nehm‘ den linken, den rechten nehm‘ ich irgendwann
    Doch wann komm ich hierher zurück, wann ist der andere dran?
    Wer kann das wissen, jeder Weg hat seinen Lauf
    Und eh ich mich verseh, schon bin ich auf dem rechten drauf.

    Der Wind verweht, die Zeit vergeht und jetzt hab ich’s begriffen
    Das Schicksal hatte mich geführt, Besitz von mir ergriffen.
    Von beiden Wegen die sich trennten, hab ich den stilleren gewählt.
    Und still und heimlich, ohne Aufsehen hat das mein Leben umgedreht.

    Annemarie Schneider

  5. Robert Frost: “The Road not taken” | loantruong

    […] Deutsche Übersetzungen: https://turmsegler.net/20100203/der-unbegangene-weg/ […]

  6. Ingeborg Matschke

    Ich finde, ein im Original gereimtes Gedicht verliert seinen Reiz, wenn es in der Übersetzung nicht gereimt ist. Das gilt gerade bei Robert Frost, der ja bekanntlich sagte, Dichten ohne Reim sei wie Tennisspielen ohne Netz. Natürlich muss der Inhalt trotzdem korrekt und vollständig wiedergegeben werden, das heißt dann tüfteln! Mit The Road Not Taken habe ich es folgendermaßen probiert:

    Der Weg, den ich nicht ging

    Ein Weg verzweigt im gelben Wald,
    ich konnte leider nicht beide gehn,
    da ich nur einer. Macht‘ lange halt,
    schaut einen hinunter, bis er bald
    dort abbog, wo Gestrüpp zu sehn.

    Ich ging auf dem andern, der ihm glich,
    vielleicht gebührt‘ das Recht ihm mehr.
    Denn da war Gras, das wollte sich
    betreten sehn. Doch sicherlich
    war’n beide gleich, so ungefähr,

    und beide gleich, zur Morgenzeit,
    in Laub, vom Schritt nicht schwarz gedrückt.
    O, sei mir der erste morgen bereit!
    Wobei ich wusst‘, geführt so weit,
    ist Zweifel, ob auch Rückkehr glückt.

    Und irgendwo nach Tag und Jahr
    sing ich mit Seufzern dieses Lied:
    Ein Weg verzweigt im Wald, ich war –
    auf dem, bereist zwar, doch mehr rar,
    das macht den ganzen Unterschied.

  7. Reiner Schwarz

    Hallo Ingeborg,
    Das ist eine wunderschöne Nachdichtung, die auch die Ambivalenz der Schlussstrophe aus dem Original einfängt!
    Vielen Dank dafür.

    Reiner

  8. Ingeborg Matschke

    O, herzlichen Dank für’s Kompliment. Wenn jemand ein anderes Gedicht von Robert Frost als Favoriten hat und neugierig ist, wie es auf Deutsch klingen kann: die bekanntesten habe ich schon ins Deutsche gebracht und stelle sie gern hier ein.

  9. Ingun Spiecker-Verscharen

    Ermutigt durch Ingeborg, deren Ansicht ich teile :-), unterbreite ich hier noch meine Version:

    Zwei Wege boten sich mir an
    im Wald, so dass ich sinnend stand,
    weil ich nicht beide gehen kann,
    beäugte den, der irgendwann
    diffus im Unterholz verschwand.

    Der zweite war laut Augenschein
    mit Grasbewuchs herausgeputzt
    und lud zum Weitergehen ein,
    doch schiene er im Nachhinein
    durch ein Beschreiten abgenutzt.

    Wenn beiden Ehrfurcht auch gebührt,
    vom Tritt entwertet nimmermehr,
    ließ ich den ersten unberührt-
    weil stets ein Weg zum nächsten führt,
    verbot sich mir die Wiederkehr.

    Erzählen will ich mitteilsam,
    doch wehmutsvoll ein Leben lang,
    wie ich an jene Wege kam:
    Der unerforschte, den ich nahm,
    bestimmte meinen Werdegang.

  10. Sappok, Inge

    Hallo an alle mutigen Übersetzer, auch ich liebe dieses Gedicht und habe mir selbst vergeblich die Zähne daran ausgebissen. Ich wundere mich nur darüber, dass keiner den Herbstwald im Yellow Wood gesehen hat, denn der gibt den letzten Zeilen noch einen schönen, besonders nachhaltigen Sinn. Viel Erfolg weiterhin.

  11. Ingeborg Matschke

    Hallo Inge,

    natürlich kann man im „gelben Wald“ einen Herbstwald sehen, wahrscheinlich tut das auch fast jeder.

    Aber deswegen darf und sollte man als Übersetzer dennoch nicht Herbstwald hinschreiben.

    Der Autor hat auf präzise Weise „yellow“ gesagt, und es gibt keinen Grund, dieses Adjektiv nicht mit „gelb“ zu übersetzen.

    Eine Übersetzung, wenn sie gut ist, lässt die Interpretationsmöglichkeiten, die das Original bietet, offen.

  12. Werner Friedl

    Liebe Ingeborg,

    zu deinen Anmerkungen vom September und deiner Übersetzung von „The Road not Taken“: Gerade habe ich einen Text von Günter Thimm in „Sinn und Form“ Nr. 6/2018 über Brecht und seine Art des Übersetzens literarischer Texte gelesen. Thimm nennt sie „gestisches Übersetzen“. In diesem Essay werden u.a. drei deutsche Versionen von „Fire and Ice“ von Robert Frost miteinander verglichen, das auch du vermutlich ins Deutsche übertragen hast, es gehört zu seinen bekanntesten Gedichten. Mich würde deine Version interessieren.

    In „Sinn und Form“ wurde übrigens in der Nr. 5/2018 der äußerst lesenswerte Text einer Vorlesung von Esther Kinsky zum Thema Übersetzen abgedruckt (Titel „Weiße Räume – lichtes Maß“). Sie sagt dort u.a.: „Jeder Dichter schreibt in seiner eigenen, von persönlichen Assoziationen geprägten Sprache, und jeder Übersetzer trifft seine eigene, in persönlicher Erfahrung und Geschichte verankerte Wahl der Wörter. In jedem solchen Hinterland gibt es auch die Zwischenräume, Auslassungen und Verschweigungen kollektiver und individueller Natur, die der sich davor entwickelnde Text spiegelt und die es zu identifizieren gilt.“ Das weist m.E. darauf hin, dass Übersetzen viel mehr ein Nachdichten als eine wortgetreue Wiedergabe sein sollte. Die ja sowieso nie möglich ist, immer wirst du entweder die Wortbedeutung, den Reim, den Rhythmus, den Sinn oder sonst etwas Wesentliches mindestens teilweise verlieren, wenn du übersetzt. Die Italiener charakterisieren dieses Dilemma mit dem griffigen Wortspiel „traduttore-traditore“.

    Kennst du die Übertragungen von Raoul Schrott, z.B. von der „Ilias“? Er entfernt sich weit vom Wortlaut und begründet dies im Buch auch sehr ausführlich. Sein Ziel sei es, schreibt er, „Homer von seinem Ufer abzuholen um ihn ins Heute zu bringen“. „Narration, Dramaturgie und Bildlichkeit“ liegen in Schrotts Fokus. Übersetzen also als ´Übersetzen (im Sinne einer Fährfahrt).

    Zurück zu Robert Frost: Den obigen Überlegungen folgend, könnte man den „Herbstwald“ (Beitrag von Inge) durchaus für den „yellow wood“ nehmen. Aufs Bild, auf die Assoziationen des Lesers kommt’s an.

    Und noch eine Frage an den Betreiber dieses schönen Blogs, (den ich erst heute entdeckt habe): Das Plakatfoto bildet die letzten Zeilen einer nicht auf dieser Seite vorgestellten Übersetzung ab, und ich finde diese Zeilen ganz stark. Weißt du, von wem diese Version stammt? Im Übrigen spiegeln sich im Foto noch Teile des Logos der „Unterfahrt“, das ich vor mehr als vierzig Jahren entworfen hatte. Die Welt ist klein. Gruß nach Haidhausen.
    Werner

  13. Ralph Borchert

    noch’n Versuch

    Der unbegangne Weg

    Ein Weg im gelben Wald vom anderen abging,
    Schade, dass mir beide zu nehmen verwehrt,
    Als Wandrer allein ich in Gedanken hing,
    Sah einen hinab, so weit mein Auge dring‘
    bis dort im Gehölz seine Kurve sich kehrt;

    Ich nahm den anderen, ebenso tief,
    Da es schien, er könne sich mehr auserbeten,
    Weil er grasbewachsen nach mir rief,
    Aber wer sonst auf diesen Wegen lief
    Schien sie recht ähnlich ausgetreten,

    Der Morgenglanz sie beide berührte,
    Voller Blätter, die noch kein Schritt versehrt.
    Dachte dass dem ersten ein andrer Tag gebührte,
    Doch wissend wie Weg stets zu Wege führte,
    Glaubt ich kaum, dass man je wiederkehrt.

    Ich sagte dies mit einem Seufzer für mich
    viel-viel später, entrückt Jahr um Jahr:
    Zwei Wege trennten sich im Wald, und ich
    Nahm den wenig Begangnen, da sich
    die Stelle fand, wo alles anders war.

  14. Marie Niebler

    Hallo Ingeborg,

    hast du vielleicht auch „Fire and Ice“ übersetzt? Ich liebe dieses Gedicht, aber konnte bisher keine deutsche Übersetzung finden, die es wirklich „einfängt“. Deine Übersetzung dieses Gedichts hier ist übrigens auch wirklich wundervoll.

  15. Ingeborg

    Lieber Werner,
    ich verstehe nicht ganz, warum ich Deinen ausführlichen und anregenden Beitrag erst jetzt entdecke. Aber egal, ich antworte mal von unten nach oben.
    Ich habe einschließlich der Beiträge auf Turmsegler zwölf verschiedene deutsche Versionen von The Road not Taken abgespeichert, keine endet auf … veränderte mein Leben. Ich vermute, man hat mit dem deutschen Text für den Film auch die letzten drei Zeilen des Gedichts (und nur diese) eigens so übersetzt (vielleicht um kein Problem mit Urheberrechten zu haben). Wenn ich meine Meinung dazu sagen darf: Es ist wieder ein Satz, der so nicht in Frosts Original steht und obendrein seiner künstlerischen Absicht, die Aussage mehrdeutig und rätselhaft zu machen und in der Schwebe zu halten, zuwiderläuft. Stattdessen bietet dieser Übersetzer eine eindeutige Lösung, man hört sie sich an, gut, Sache abgehakt. Frosts And that has made all the difference hingegen beschäftigt die Gemüter noch nach Jahrzehnten. Wie und wieso, dazu könnte ich noch eine ganze Seite schreiben, aber das würde wohl den Rahmen dieses Forum sprengen.

    Die deutsche Ilias-Version von Raoul Schrott kenne ich bislang nicht, aber wenn er mit seiner „textfernen“ Übersetzung eine bestimmte und wohlbegründete Absicht verfolgt und diesen Stil konsequent von Anfang bis Ende durchhält, finde ich das gut. Allerdings sollte der Abstand zwischen der griechischen und der deutschen Fassung im Vor- oder Nachwort dem Leser ausreichend und an Beispielen klargemacht werden. Wenn nicht, fürchte ich, wird so mancher bei der Lektüre falsche Schlüsse ziehen, das Ergebnis nennt man dann Halbbildung, die oft noch peinlicher ist als gar keine Bildung.

    Zum Verhältnis zwischen Originaltext und „Nachdichtung“: Eine Wort-für-Wort-Übersetzung zu präsentieren, bedeutet meinesachtens, den Dichter zu kränken und seinen Ruf zu schädigen. Natürlich ist eine gute Gedichtübersetzung eine Nachdichtung, „-dichtung“ hier verstanden als „verdichteter Text“, der poetisch, lyrisch usw. klingt und wirkt und dem Leser eben auch die formale Struktur des Ausgangstextes vermittelt. Leider versteht aber so mancher das Wort Nachdichtung/nachdichten im Sinne von „erfinden, sich etwas ausdenken, von der Realität abweichen“. Wenn die Gedichtausgabe zweisprachig ist und der Leser die Originalsprache einigermaßen versteht, mag das noch angehen, denn er kann ja die Unterschiede feststellen und sich eine Meinung bilden. Aber wenn er nur die deutsche Version liest bzw. lesen kann, wird er bei zu abweichender Nach-dichtung über die Aussage des Autors getäuscht. Das traduttore-traditore ist originell, doch ich halte es mehr für einen Sarkasmus, und ich persönlich halte mich lieber an die Vorgaben eines großen Italieners, nämlich Umberto Ecos, der in seinem 450 Seiten starken Buch „Quasi dasselbe mit anderen Worten“ die Schwierigkeiten eingehend darstellt, aber für möglichst genaue Übersetzungen/Übertragungen/Nachdichtungen eine Lanze bricht. Die Genauigkeit betrifft dabei nicht nur die Wortbedeutungen, sondern auch das, was dazwischen steht, das Hinterland … , wie Du so treffend zitierst. Der Übersetzer sollte dieses Hinterland als solches erkennen, dem Dichter bei seinem Gang dadurch folgen, und beispielsweise seine Auslassungen, sein Verschweigen usw. respektieren und es so gut in der Zielsprache wiedergeben, wie möglich ist.
    Und ich halte mich für nicht groß genug, um zu Robert Frosts Gedichten absichtlich meinen eigenen Senf dazuzugeben. Schlimm genug, dass man immer wieder mal leicht abweichen muss, damit das Versmaß stimmt.

    Hier meine Version von „Fire and Ice“:
    Feuer und Eis
    Man sagt, die Welt vergeht im Feuer,
    Man sagt, im Eis.
    Geschmeckt das Lebensabenteuer
    gilt meine Gunst euch mit dem Feuer.
    Doch stirbt sie zweimal, nun, ich weiß
    genug von Hass, genug von Zwist,
    und sag, dass für Zerstörung Eis
    auch bestens ist,
    reicht gleicherweis.

    Mit der letzten Zeile bin ich nicht sehr zufrieden, da das „und“ fehlt. Alternative wäre: und reicht bereits. Hierbei ist allerdings der Reim nicht perfekt. Ich freue mich, wenn Ihr mir Eure Meinung dazu sagt.
    An Marie: ich hatte am 17. Juli eine Mail an Dich losgeschickt mit dem Text von Feuer und Eis, habe aber jetzt meine Zweifel, ob sie bei Dir angekommen ist.
    Der Artikel in „Sinn und Form“ über die Gedichtübersetzungen interessiert mich sehr. Von wem sind diese Übersetzungen? Gibt es außer einer deutschen gut sortierten Bibliothek noch eine andere Möglichkeit, an ihn heranzukommen? (Ich lebe in Italien und fahre höchstens 1-2 Mal im Jahr nach Deutschland.)

  16. Werner

    Liebe Ingeborg,

    herzlichen Dank für Deine Antwort, und dass sie verspätet kommt, ist nicht wichtig.
    Ich bin nicht in allem Deiner Meinung. Zum Beispiel, wenn Du schreibst, dass die Übersetzung der letzten Zeile von The Road not Taken mit „… veränderte mein Leben“ der Absicht Frosts, die Aussage mehrdeutig und rätselhaft zu machen, zuwiderlaufe. „And that has made all the difference“ ist für mich nicht wirklich mehrdeutig oder rätselhaft. Es eröffnet dem Leser nur große Räume für eigene Empfindungen und Überlegungen. Für mich ist „to make the difference“ weniger mehrdeutig als beispielsweise Celans „und dieses war der ganze Unterschied“, denn im Deutschen kann das sowohl bedeuten, dass man den Unterschied für gering oder auch für groß hält. To make the difference hat nach meinem Sprachgefühl diese Ambivalenz nicht. Daher finde ich die Version aus dem Foto „Und das veränderte mein Leben“ durchaus angemessen (und kann ebenfalls die Gemüter noch nach Jahrzehnten beschäftigen). Auf die ganze Seite, die Du dazu noch schreiben könntest, wäre ich neugierig.

    In einem früheren Beitrag hast Du geschrieben, ein im Original gereimtes Gedicht verliere seinen Reiz, wenn es in der Übersetzung nicht gereimt sei. Das sehe ich nicht so streng. Eher sind der Rhythmus und das Versmaß etwas, das man nicht aus dem Auge verlieren sollte. Neben dem Wichtigsten natürlich: der Aussage. Diese hat – und da habe ich ja auf den Artikel von Esther Kinsky hingewiesen – allerdings einen viel weiteren Umfang als nur den „Sinn“: dieses ganze „Hinterland“, wie sie es nennt, gehört hier dazu, und alles, was man vielleicht eine individuelle emotionale Färbung nennen könnte. Die des Dichters wie des Übersetzers. Ein unendliches Feld. Und aus diesem Grund wird es auch nie „die“ einzige „richtige“ Übersetzung (besser: Übertragung, Nachdichtung) geben können, jeder Übersetzer wird (bewusst wie unbewusst) eigene Akzente setzen. Und das traduttore-traditore finde ich daher auch als zugespitzte Formulierung eines unauflöslichen Dilemmas berechtigt.

    Das Buch von Umberto Eco kenne ich nicht, aber danke für die Anregung.

    Zu Raoul Schrott und seiner Ilias: Ich verstehe Deine Vorbehalte, in diesem Fall aber sind sie m.E. unbegründet. Nach einer gründlichen Einführung in den Kontext der Ilias erläutert Schrott auf zehn Seiten sein Vorgehen beim Übertragen des Textes. Ich zitiere: „Sie [die vorliegende Fassung] erfindet dabei nichts hinzu: sie gestaltet nur aus, was bereits im Original angelegt ist. Und sie adaptiert die homerische Diktion in einem modernen Duktus, der vom hohen Ton bis zum lakonisch Hingeworfenen und Derben eine weitaus größere Ausdrucksbreite umfasst. Das heißt, der rhapsodischen Tradition, die von der Ilias begründet wurde, treu zu bleiben: was wohl eine größere Texttreue ist als jene, die bloß am Wörtlichen hängt.“

    Ich lese ausgesprochen gern in diesem Buch.

    Zu Deiner Übertragung von Fire and Ice:
    Ich finde sie recht ansprechend, mit einer, allerdings wie ich finde, gravierenden Ausnahme: das „Lebensabenteuer“ (das eben dem Reim geschuldet ist), finde ich bei weitem nicht dem angemessen, was desire für mich beinhaltet: Sehnsucht, Begehren, Verlangen usw.

    Auch ich halte mich nicht „für groß genug usw.“, trotzdem traue ich mich, hier meine eigene (zugegeben schnell niedergeschriebene) Version von Feuer und Eis hinzuzufügen:

    Feuer und Eis

    Der eine sagt: im Feuer wird die Welt vergehn
    Die andere: im Eis.
    Was ich aus dem Begehren weiß, ist,
    Dass die mir näher sind, die Feuer vorziehn.
    Doch muss sie zweimal untergehn,
    ist mir genug vom Hass bekannt,
    zu sagen, dass das Eis zum Untergang
    genauso trefflich ist
    und wohl genügt.

    (Ich habe noch eine zweite Version verfasst, aber eine muss für heute genügen)

    Den (wirklich großartigen) Text von Esther Kinsky könnte ich für Dich scannen und Dir per Mail schicken. Dazu bräuchte ich aber Deine E-Mail-Adresse. Meine lautet: post [at] werner-friedl.de

    Herzliche Grüße nach Italien, Werner

  17. zh85

    Am Scheidweg

    Im herbstlich-gelben, dichten Wald
    Da trennte sich der Weg vor mir
    Und so beschaute ich schon bald
    Den ersten, bis zu einem Halt
    Mein Blick kam tief im Astgewirr

    Ich nahm den Andern, auch sehr schön
    Er schien sehr einladend zu sein
    Und er war grasig, war gut zu gehn
    Doch muss ich trotzdem eingestehn
    Man lief schon beide gründlich ein

    Und grad an diesem Morgen lag
    Weg neben Weg, ganz unberührt
    Ob ich ihn wiedersehen mag
    Dereinst, an einem anderen Tag,
    Den Weg, der mich nicht fortgeführt?

    In ferner Zukunft irgendwann
    Erzähl ich, sanft dahingehaucht
    Vor mir, da lief ein Weg entlang
    Doch ich, ich nahm den andren dann
    Und das ist alles, was es braucht

  18. Rainer Lienemann

    Hallo Turmsegler,
    angeregt durch die letzten beiden Zeilen der Celan-Übersetzung, die ich in der Todesanzeige eines Bekannten fand, habe ich zum Gedicht recherchiert und bin auf diese interessante und bereichernde Seite dazu gestoßen. Zu den variierenden Übersetzungen ist viel gesagt, ließe sich noch viel sagen. Darf ich stattdessen eine weitere Übersetzung anbieten?

    Der nicht begang’ne Weg

    Zwei Wege trennten sich im gelben Wald,
    Und beide konnt‘ ich leider nicht zugleich betreten
    War ich doch nur ein Wanderer; so stand ich lang
    Und sah dem einen nach,
    Wie er im Unterholz verschwand.

    Ich nahm den andren dann, egal,
    Vielleicht, dass er mir mehr gefiel
    So grasig und so zum Begehn bereit.
    Doch letztlich hatten Wanderer
    Sie beide ziemlich gleich betreten.

    Und gleich auch war an diesem Morgen
    Das Laub auf ihnen, nicht zu Schwarz zertreten.
    Ich ließ den ersten mir für später,
    Wohl wissen: Wege finden sich.
    Ob jemals ich mich hier wohl wiederfände, wusst‘ ich nicht.

    Und Jahre später werd‘ ich’s wohl
    Mit einem Seufzer so erzählen:
    Zwei Wege trennten sich im Wald,
    Und ich, ich nahm den kaum begang’nen.
    Und das hat allen Unterschied gemacht.

    Mit besten Grüßen,
    Rainer Lienemann

  19. Werner Friedl

    Wieder über ein Jahr nach dem letzten Beitrag auf dieser Seite:
    Erstens: Schade, dass die Seite seit Jahren eingeschlafen zu sein scheint.
    Zweitens möchte ich einen späten Dank abstatten: Diese Seite zu Robert Frosts „The Road Not Taken“ hat aus Ingeborg und mir ein Paar gemacht. Wir haben uns beide intensiv weiter mit RF beschäftigt, Ingeborg hat sein Gesamtwerk ins Deutsche übertragen, jetzt heißt es, einen Verlag dafür zu finden. Wenn jemand da weiterhelfen kann … Immerhin haben wir in Rüdiger Heins von der Zeitschrift experimenta.de jemanden gefunden, der unsere Aufsätze über Gedichte von RF veröffentlicht. Die Mainummer enthält Ingeborgs Essay zu „Range Finding“, in den folgenden Ausgaben wird in drei Teilen ein Essay von mir zu „Directive“ zu lesen sein, eines von Frosts am meisten verrätselten Gedichten.
    Zum Dank hier noch meine Version von „The Road Not Taken“:

    Der nicht begangene Weg

    Zwei Wege trennten sich im gelben Wald,
    Wollt‘ beide gehen und lang ich stand,
    Bin einer nur, so macht‘ ich Halt,
    Schaut‘ einem nach, bis der sich bald
    Entzog, ins Unterholz verschwand.

    Nahm dann den andern, grad so schön,
    vielleicht mit höherem Anspruch noch,
    war er doch grün, wollt‘ Schritte seh‘n;
    doch hat, was das betrifft, das Geh’n
    sie gleich ausgetreten doch.

    Ein Weg wie der andre lag
    im Laub, noch nicht getreten nieder.
    Ich spart‘ den ersten für den andern Tag!
    Weiß ich zwar, wie Weg zu Weg führ‘n mag,
    doch zweifelte, ob ich käm‘ wieder.

    Mit einem Seufzer sag ich irgendwann
    wenn Ewigkeiten sind vollbracht:
    Zwei Wege trennten sich im Wald, ich sann
    und nahm den weniger begang’nen dann,
    Das hat den Unterschied gemacht.

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