Mitternacht schlägt es vom Turm. Es endet der Tag. Ein Kalenderblatt fällt. Man schreibt ein neues Datum. Die Redakteure gähnen. Die Druckformen der Morgenblätter werden geschlossen. Was am Tage geschehen, geredet, gelogen, erschlagen und vernichtet war, lag in Blei gegossen wie ein flacher Kuchen auf den Blechen der Metteure. Der Kuchen war außen hart, und innen war er glitschig. Die Zeit hatte den Kuchen gebacken. Die Zeitungsleute hatten das Unheil umbrochen, Unglück, Not und Verbrechen; sie hatten Geschrei und Lügen in die Spalten gepreßt. Die Schlagzeilen standen, die Ratlosigkeit der Staatenlenker, die Bestürzung der Gelehrten, die Angst der Menschheit, die Glaubenslosigkeit der Theologen, die Berichte von den Taten der Verzweifelten waren vervielfältigungsbereit, sie wurden in das Bad der Druckerschwärze getaucht. Die Rotationsmaschinen liefen. Ihre Walzen preßten auf das Band des weißen Papiers die Parolen des neuen Tages […]
Wolfgang Koeppen
»Tauben im Gras / Das Treibhaus / Der Tod in Rom«
Bibliothek Suhrkamp 926, S. 220
••• Einmal mehr stehe ich in geradezu ehrfürchtiger Bewunderung vor Wolfgang Koeppens Prosa. Vor Monaten habe ich mir den 600 Seiten starken Band 926 der Bibliothek Suhrkamp bestellt, der die Romane von Koeppens Nachkriegstrilogie (»Trilogie des Scheiterns«) enthält. Seither lese ich »Tauben im Gras« – in homöopatisch zu nennenden täglichen Dosen wie seinerzeit schon »Jugend«. Heute morgen kam ich zur oben zitierten letzten Seite …
Dieser erste Koeppen-Roman ist ein poetisches Meisterwerk. Und ich würde es ein kompromissloses poetisches Meisterwerk nennen, wüsste ich nicht, dass Koeppen durchaus Konzessionen machen musste. Ohne Punkte sollte der Text ursprünglich fließen dürfen, ein einziger Strom der ineinander verwobenen Geschichten der sieben Protagonisten. Dass mich gerade dieser Roman so ungemein gepackt hat, ist nicht überraschend vor dem Hintergrund des »Anderen Blau«. »Tauben im Gras« ist keine »Prosa für 7 Stimmen«. Koeppen erzählt von außen, in der dritten Person. Aber das Konzept, das Erleben von sieben Figuren über einen Tag, zerlegt in Fragmente, zu montieren, zu verflechten, ja regelrecht zu verschmelzen – das kommt der Vorstellung, die ich seinerzeit für das »Blau« hatte, so nahe, wie man sich nur vorstellen kann. Koeppen gelingt dies virtuos. »Tauben im Gras« ist eine taumelnde Odyssee durch einen Tag im besetzten Nachkriegsdeutschland. Was da sichtbar wird unter dem wirklich hauchdünnen zivilisatorischen Firnis – die Rassenressentiments, die Hilflosigkeit, das Nur-vergessen-wollen-so-schnell-wie-möglich … Ein sehr intensives Panorama des damaligen Westdeutschland.
Im Vorwort zu der 1956 erschienenen Taschenbuchausgabe schreibt Koeppen:
»Tauben im Gras« wurde kurz nach der Währungsreform geschrieben, als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging, als die ersten neuen Kinos, die ersten neuen Versicherungspaläste die Trümmer und die Behelfsläden überragten, zur hohen Zeit der Besatzungsmächte, als Korea und Persien die Welt ängstigten und die Wirtschaftswundersonne vielleicht gleich wieder im Osten untergehen würde. Es war die Zeit, in der die neuen Reichen sich noch unsicher fühlten, in der die Schwarzmarktgewinner nach Anlagen suchten und die Sparer den Krieg bezahlten. Die neuen deutschen Geldscheine sahen wie gute Dollar aus, aber man traute doch mehr den Sachwerten, und viel Bedarf war nachzuholen, der Bauch war endlich zu füllen, der Kopf war von Hunger und Bombenknall noch etwas wirr, und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam. Diese Zeit, den Urgrund unseres Heute, habe ich geschildert, und ich möchte nun annehmen, sie allgemeingültig beschrieben zu haben, denn man glaubte, in dem Roman »Tauben im Gras« einen Spiegel zu sehen, in dem viele, an die ich beim Schreiben nicht gedacht hatte, sich zu erkennen wähnten, und manche, die ich nie in Verhältnissen und Bedrückungen vermutet hatte, wie dieses Buch sie malt, fühlten sich zu meiner Bestürzung von mir gekränkt, der ich nur als Schriftsteller gehandelt hatte und nach dem Wort Georges Bernanos‚ »das Leben in meinem Herzen filterte, um die geheime, mit Balsam und Gift erfüllte Essenz herauszuziehen«.
Wolfgang Koeppen
»Tauben im Gras / Das Treibhaus / Der Tod in Rom«
Bibliothek Suhrkamp 926, S. 221
Lasst mich das noch einmal langsam gesprochen wiederholen: … der ich nur als Schriftsteller gehandelt hatte und nach dem Wort Georges Bernanos‘ »das Leben in meinem Herzen filterte, um die geheime, mit Balsam und Gift erfüllte Essenz herauszuziehen«.