Zélia Gattai über Fotos von Jorge Amado (Arquivo Jornal A Tarde)
••• Gerade eben mal wieder ein interessanter mystischer Gedanke, und er erreicht mich aus einer Ecke, in der ich Mystik zuletzt vermutet hätte: In der »Sinn und Form« (11-12/2009, S. 799) lese ich in einem Brief Anna Seghers‘ an Zélia Gattai und Jorge Amado …
Du kennst die Geschichten vom »Golem«? Der künstliche Mensch, den der Großrabbiner von Prag geschaffen und in Umlauf gesetzt hat? Es gibt viele Geschichten über dieses Thema, und eine gefällt mir sehr, aber sie ist grausam und großartig.
Es ist den Juden verboten, den wirklichen Namen Gottes […] auszusprechen. Gott selbst hat seinen eigenen Namen ausgesprochen, als er den Menschen geschaffen hat. Und wenn der Rabbiner den künstlichen Menschen schafft, spricht er auch diesen heiligen Namen aus. Aber er darf das nur tun, wenn der Mensch, der von ihm – wie von Gott – geschaffen wurde, leben kann. Wenn er diesen Namen sagt, zirkuliert der Golem. Wenn der Golem nicht gelungen ist, muß sein Schöpfer, der nicht begabt genug war, sterben. Ein wenig, glaube ich, ist es auch so mit dem Buch des Schriftstellers.
In der »Leinwand« zitiert Zichronis Freund Eli Rothstein den Midrasch, und Zichroni wird fortan das Gefühl nicht mehr los, wann immer er meint, sich seiner Bestimmung gestellt zu haben, zu sterben, weil das Werk gewissermaßen erledigt sei.
Ein schönes Paradaxon: Dort wird der mit dem Tod bedroht, der begabt genug war und seine Begabung zur Tat hat werden lassen, also zum Fakt, der etwas dort draußen bewirkt. Bei der von Seghers zitierten Geschichte ist es grad umgekehrt: Der muss sterben, dessen Schöpfung misslungen ist.
Recht haben wohl beide Geschichten: Ob der »Golem« gelingt oder nicht – man hat so oder so ein Teil Leben darangegeben, und mitunter fühlt es sich an wie das ganze.
Am 10. Dezember 2009 um 11:36 Uhr
Wassili Semjonowitsch Grossman beschreibt in „Leben und Schicksal“. das unbeschreibliche, er beschreibt den Weg der Menschen von der Laderampe bis zu den Duschkabinen in Ausschwitz, man geht mit ihm mit, er beschreibt es auf eine Art die alles Andere unbeschreibbar macht.
Die Fähigkeit etwas zu „beschreiben“ dass nicht zu beschreiben ist, ist das was man Kunst nennen kann, alles andere mag auch eine Fähigkeit sein, aber das ist eine Fähigkeit die man nicht mehr vergisst, weil sie alles andere unmöglich macht, man verlässt diese Duschkabinen nicht mehr so wie man sie betritt, die Menschen dort waren hinterher tot, man selber fühlt sich so, als hätte man nie gelebt.
Vielleicht eben so etwas wie ein Golem, der sehen kann, aber nicht begreifen darf was geschieht, irgendwo dort stehen wir doch oder etwa nicht?
Am 11. Dezember 2009 um 11:12 Uhr
Beim Golem vergisst du die Frage der Perspektive: Wer beurteilt, ob das Werk gelungen ist? Oder: Liegt das Gelingen allein schon in der Tat?
Am 11. Dezember 2009 um 11:14 Uhr
Das sagt ja gerade das Zitat: Entscheidend ist, ob der »Golem« lebensfähig ist. Was das in der Übertragung auf ein Buch bedeutet…
Am 11. Dezember 2009 um 22:49 Uhr
ich bin der meinung, dass es grundsätzlich der TAT bedarf, nicht des getanen.
Am 12. Dezember 2009 um 19:19 Uhr
Für mich steht doch mehr das letztendlich geschaffene Werk im Vordergrund. Ist es einmal »dort draußen«, führt es ein Eigenleben.
Am 12. Dezember 2009 um 19:29 Uhr
das geschaffene werk führt jenes leben des lesers, es bleibt gedankenform auf halde.
Am 12. Dezember 2009 um 19:38 Uhr
Jetzt hast Du mich abgehängt :-)