Worin die Notwendigkeit liegt

28. Oktober 2009

Ilse Aichinger
Ilse Aichinger (*1921)

••• Das ist mal wieder eine Fügung: Vor einigen Tagen erst dachte ich unvermittelt an Günter Eich und seine »Träume«-Hörspiele, über die ich schon lange einmal hier schreiben will, es aber immer wieder aufschiebe; und heute erreicht mich via @Hilbi ein Tweet mit Hinweis auf ein Interview mit Ilse Aichinger, die – was ich bis eben gar nicht wusste – 19 Jahre mit Günter Eich verheiratet war.

Dieses Interview ist eine Perle, ein Juwel. Welch poetischer Lebensüberdruss und dabei doch ohne Larmoyanz! Schreiben? sagt sie: Ich muss doch nicht schreiben! Und einen Rat an die jungen Autoren gibt es auch:

ZEIT: Was sollen die jungen Autoren heute machen?

ILSE AICHINGER: Sich klarmachen, worin die Notwendigkeit liegt. Vor allem, einen anderen Beruf haben. Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müßte man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin. Sich als Autor allein zu definieren, ist heute nicht mehr möglich. Egal ob man Installateur, Krankenpfleger oder im Büro ist. Das ist noch eine andere Welt, auch wenn sie einen anödet. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich „privat“.

Aber da wird noch viel mehr verhandelt. Unbedingt lesenswert.

9 Reaktionen zu “Worin die Notwendigkeit liegt”

  1. perkampus

    so sehr ich frau aichinger schätze, kann ich nicht gelten lassen, was sie da sagt. das mag für sie durchaus zutreffen, dass sie schreiben nicht als berufung sieht. aber eine bankrotterklärung wie diese würde ich niemals unterschreiben. immer mussten dichter sich auch der sklaverei unterziehen, um zu überleben. daran hat sich nichts geändert. aber es gibt eben durchaus jene, die sich allein durch sprache definieren. ich gehöre dazu, auch wenn das freilich nicht alle facetten abdecken kann. dieser gesellschaft und weltordnung gebe ich keinen zentimeter meines seins.

    allerdings gilt das gesagte ja für junge autoren. und denen darf man durchaus abraten, schreiben zu wollen (solange sie nicht müssen). schreiben ist magie, nicht ein beruf, aber berufung. die meisten sollten in der tat schweigen.

  2. Benjamin Stein

    allerdings gilt das gesagte ja für junge autoren. und denen darf man durchaus abraten, schreiben zu wollen (solange sie nicht müssen).

    Niemand sollte schreiben, solange er nicht muss. Und das unabhängig vom Alter und der Anzahl eventuell schon geschriebener Werke, Ich habe allerdings den Eindruck, dass viele sehr leicht das Gefühl haben, es zu müssen.

    Deswegen gefällt mir ihre Wortwahl: Sie sagt eben Notwendigkeit. Welche Not kann ich wenden, wenn ich schreibe? Das ist eine gute Frage.

    Ich bin mit dem meisten nicht einverstanden. Vieles ist gar konträr zu meinen Ansichten. Aber wie sie es sagt, das habe ich doch mit großem Vergnügen gelesen. Ich bin sozusagen in den meisten ganz herzlich uneins mit ihr.

  3. perkampus

    das kann man gelten lassen.

    die notwendigkeit besteht meinees erachtens darin, sich in der welt klar zu machen (auch nur wieder für sich in bezug auf alles andere), schneisen eines verkommenen weltbilds, einer definitiv völlig irregeleiteten betrachtung unserer welt zu verlassen, um sich mit dingen zu verbinden, die immer da sind, und immer da waren. ich also wende die not einer grammatik, die mich in bahnen zwingt. was aichinger zb. zersplitterung der sprache nennt ist für mich nur das aufdecken des ewigen fliessens in ihr. entdeckt man das, wird alles erzählen sinnlos, weil sich gesagtes sofort wieder auflöst. nur das gefühl einer begebenheit bleibt, nur die erinnerung, die wir so und so erinnern wollen.

    nicht „ich ging“ (vielleicht schwebte ich ja, vielleicht wurde ich mitgerissen, vielleicht ist ICH nur ein wort, um einen fiktiven punkt zu beschreiben, wie das foucaultsche pendel – irrelevant).

  4. HerrH

    Genau für die jungen hat sie das geschrieben Herr P, allerdings ist das Interview schon was her…also

  5. HerrH

    die notwendigkeit besteht meinees erachtens darin, sich in der welt klar zu machen

    das stimmt allerdings und Frau Aichinger macht mit ihrem Werk nichts anderes, sie macht klar, das sind klar wundersam surreale bIlder, alleine der roman „Eine größere Hoffnung“ gehört zu denen, die man gelesen haben „muss“.

    Ich liebe diese Frau, deshalb bin ich hier nicht objektiv, ja ich liebe diese junge Frau!

    „Wem gehört das Heft?“
    „Denen da oben, die keine Uniform tragen dürfen. Den anderen!“
    „Ein englisches Vokabelheft?“
    „Weshalb lernen sie Englisch?“
    […] Weshalb lernt man Englisch, wenn man sterben muss? (Seite 84f)

    (die größere Hoffnung)

  6. perkampus

    ich denke, man sollte einfach weiterschreiben. immer schreiben, schreiben. so wie essen. es geht nicht anders, man magert sonst ab. die jungen sollten einen beruf lernen, geld verdienen und uns schreiben lassen :)

    von diesem geld, das sie verdienen, können sie dann unsere bücher kaufen und nachlesen, wie es ist, wenn man etwas geschrieben hat. und dann sagen sie: gut, dass ich einen beruf habe und nicht schreiben muss.

  7. Benjamin Stein

    @p.-

    Mich erinnert das an den Essay von Jürgen Ploog (noch nicht ganz gelesen, aber in Arbeit). Mir ist das alles zu radikal. Warum »kann man nicht, weil«? Es mag ja stimmen, dass die Sprache zersplittert ist, aber warum muss man deswegen das Erzählen einstellen?

    Ich bespielsweise sehe mich als anachronistischen Techniker. Ja, ich erzähle, natürlich doch! Und ich versuche Abbildung (selbst in Form der Beschreibung) von Örtlichkeiten bspw. und Vorgängen. Lediglich in der Montagetechnik tobe ich mich konzeptionell aus und natürlich mit den Themen. Warum soll das nicht gehen, nicht erlaubt sein?

    Warum soll man die Zersplitterung »nicht zur Sprache« bringen. Gute Literatur ist – IMHO – ohnehin immer Gleichnis.

  8. HerrH

    Sie müssen nicht mal unsere Bücher kaufen, das tun sie doch sowieso nicht, aber von dem Geld könnten sie was abgeben :-)

  9. perkampus

    natürlich darf man, benjamin. da habe ich doch gar nichts dagegen. erzählt, freunde! ich rede natürlich stets von der sprache als instrument der wahrnehmung. das ist es, was mich interessiert. und auch ich erzähle, selbst wenn ich es nicht will. dennoch interessieren mich die brüche, auch des effekts wegen. und auch reiche orchestrierung interessiert mich. ich lehne mich mehr an die musik als zb. an den film oder das abbildbare.

    radikal sehe ich das eigentlich gar nicht. ich verfolge ja kein ziel mit meiner arbeit, ausser sie zu tun.

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