Antwerpen Stadspark: Tauben, Enten und Karnickel
••• Meine zweite Recherche-Reise nach Antwerpen musste ich verschieben. Ich hatte die Buchung wieder mal so lange verschleppt, bis Zugfahrt wie Flug nur noch zu unverschämten Preisen zu bekommen waren. Nun werde ich also im November nochmals auf die Reise gehen, diesmal per Flugzeug via Brüssel. Um die Buchung hat sich liebenswürdigerweise die Herzdame gekümmert, damit ich es nicht wieder verschwitze. Und anlässlich dieser Reisevorbereitungen haben wir uns ein wenig über meine Recherchen unterhalten.
Meinen Wunsch, bei einer Obduktion zu hospitieren, meinte sie – das müsse mir klar sein – würden sicher viele etwas abseitig finden, um nicht zu sagen: freakig. Aber wieso denn? habe ich mich empört. Ja, meinte sie, man könne sich sowas schließlich auch anlesen oder erzählen lassen und den Rest mit Phantasie auffüllen.
Das finde ich nun gar nicht.
Nichts, behaupte ich, ersetzt solche echten Erlebnisse und Erfahrungen, wenn man ein Buch vorbereitet. Es sind ja vor allem die menschlichen Begegnungen, die Gespräche und was man an Unerwartetem vorfindet bei solchen Live-Recherchen. Oft bringt das Nebensächliche die eigentliche Inspiration, so dass es beinahe eine Nebenrolle spielt, dass man sich auch über die in Erfahrung zu bringenden Fakten unterrichtet hat. Die Details vor Ort sind es, die sich mir einprägen und dann oft zum Ausgangspunkt des Erzählens werden.
So ist es mir bisher bei allen Buchprojekten ergangen. Bevor ich ans »Alphabet« ging, habe ich einige Wochen in Budapest und Prag verbracht, und die Straßen, Personen, das Wetter, ja sogar die Wohnungen, in denen ich unterkam, spielten später im Text eine Rolle – in andere Zusammenhänge und Zeiten transponiert, das sicher, aber sie gaben die lebendige Kulisse ab, in der sich dann die Geschichten entwickelten.
Beim »Anderen Blau« gab mein täglicher Arbeitsweg vorbei an der Unfallstelle am Bahnhof Trudering den entscheidenden Anstoß. Und die »Leinwand« wäre ohne meine häufigen Aufenthalte in Zürich, die leider weniger häufigen Aufenthalte in New York und die beiden Reisen nach Israel undenkbar gewesen. Ich musste nach der passenden Mikwe suchen – und habe sie gefunden und mit ihr den Ort (und die Dramaturgie) des Showdowns. Das Thema der eigenwillig gespaltenen deutsch-jüdischen Identität und Identitätsfindung in Ost- wie Westberlin wäre wahrscheinlich gar nicht zur Sprache gekommen, hätte ich mich nicht durch diese Reisen dem Thema erneut ausgesetzt. Und ganz sicher hätte Ofra, die Siedlung in der Westbank, keine Rolle gespielt, hätte ich nicht wie Jan Wechsler tatsächlich dort einen Schabbes verbracht und nachts die Peytanim singen hören. Vom Geigenbauer und meinen Erfahrungen in der Hypnose will ich gar nicht erst anfangen!
Als ich nun letztens in Antwerpen war, habe ich den Tatort des einen Verbrechens besichtigt und den Tatort des zweiten Verbrechens, das in »Diamond District« eine Rolle spielt, gefunden. Der Stadspark liegt inmitten der Stadt, ein Areal so klein, dass man es in 20 Minuten zu Fuß umrunden kann. Was für Bäume wachsen dort? Sind die Wege beleuchtet? Gibt es nachts Spaziergänger dort? Wie ist die Atmosphäre dieses Parks? Bei Tag, bei Nacht? Das alles kann man sich ausdenken. Aber bei solcherart Trockenübungen wird man nicht auf die Geschichten stoßen, die diese Orte zu erzählen haben. Wie zum Beispiel kommen das Huhn und die Karnickel in diesen Park? Wäre ich nicht dort gewesen, hätte ich nie erfahren, dass es sie dort gibt.
Hätte ich also eine Obduktion beschreiben müssen – wie ich zunächst dachte – dann hätte ich das nicht tun wollen, ohne mich selbst der Erfahrung auszusetzen, mir eine anzusehen. Ist das freakig? Nein, sage ich. Ich finde vielmehr, das schuldet man den Dingen (und umso mehr den Menschen), über die man erzählen möchte.
Am 14. Oktober 2009 um 23:17 Uhr
Freak! :D hihihi
Am 14. Oktober 2009 um 23:30 Uhr
Soso, ich könnte ja noch ein wenig mehr aus dem Nähkästchen dieses Gesprächs plaudern…
Am 14. Oktober 2009 um 23:49 Uhr
hihihi
Am 15. Oktober 2009 um 22:17 Uhr
Freakig ist das bestimmt nicht. Aber so absolut kann man das mit der Schuldigkeit dann doch nicht formulieren. Immerhin muss man sich die Recherche (besonders die Reisen) leisten können, finanziell, zeitlich, gesundheitlich usw. Es wäre schlimm, wenn man nur schreiben dürfte, was man mit eigenen Augen gesehen hat (und nichts gegen das „Erfinden“ – immer solang man nicht vortäuscht, recherchiert zu haben). Und da Zeitreisen noch nicht möglich sind, wäre der historische Roman tot! … Gar nicht zu reden von Sci-Fi, Phantasy und Konsorten. :-)
Thomas Stangl’s „Der einzige Ort“ ist einer der grossartigsten Romane der letzten Jahre; ein Timbuktu, das man mit allen Sinnen erfasst, ein Timbuktu, in dem Stangl nie war. Aber alle Leser fühlen nachher, dass sie in Timbuktu gewesen sind. (Vermutlich hätte er es sich nach der Publikation des Buches leisten können, es sich selbst anzusehen – hat er? Ich an seiner Stelle hätte sofort!)
Und her mit dem Nähkästchen, das nimmt mich jetzt wunder!
Ihr sagt da so oft A und verschluckt dann das B, das ist sooo fies für uns draussen, dass wir noch einmal Euer Wohnzimmer verwanzen werden, passt bloss auf!
Am 16. Oktober 2009 um 00:00 Uhr
@ La Tortuga: Versteh das bitte nicht als dogmatisches Statement. Es ist meine persönliche Ansicht, meine persönliche Herangehensweise. Und vor allem wollte ich sagen: Es wären einfach nicht die gleichen Bücher geworden, hätte ich es anders gehalten.
Was das B angeht, da muss sich ksklein schon selbst »outen« :-)
Am 16. Oktober 2009 um 20:08 Uhr
Nein nein, dogmatisch klang es nun gerade nicht. Es kommt ja auch sehr auf den Typ des Buches an, ob soviel Akribie bei der Recherche notwendig ist oder nicht. Die „Leinwand“ lebt tatsächlich sehr stark davon – gerade weil sie in eine Welt einführt, die den allermeisten Lesern sonst verschlossen bleibt.
Ausserdem macht praktische Recherche einen Heidenspass, das mache ich durchaus auch dauernd, was halt in Reichweite liegt, unabhängig davon, ob ich es gerade verwenden kann. Vieles brauche ich erst irgendwann später oder womöglich gar nie. Reine Neugier und Interesse für allerhand. Es ist bemerkenswert, wie gern Leute von ihrer Arbeit erzählen, wenn man sie nur ein Weilchen von ihr abhält.
(So so, liebe ksklein, ich bin gespannt!)
Am 18. Oktober 2009 um 15:42 Uhr
@La Tortuga: Ach, ich meinte nur zu Benjamin, er solle damit rechnen, dass er als Freak betrachtet werden könnte. Denn üblich ist es nicht, dass sich das jemand live ansehen möchte. Wenn man dann bei der Gerichtsmedizin, Ärzten, Polizei danach fragt, ob man bei einer Obduktion dabei sein könnte, erntet man bestimmt komische Blicke.
Und ich meinte nur, er solle bei einer Zusage gleich nachfragen, ob ich auch mitkommen könnte. ;)
Am 20. Oktober 2009 um 18:41 Uhr
Mich wundert, wenn/dass das überhaupt möglich ist. Von Gerichtsmedizin gar nicht zu reden – nur die Bestatter schon: wenn man nämlich anfragt, erntet man nicht so sehr komische Blicke, sondern recht schroffe Absagen (ich bin nicht die einzige, die das so erfuhr – vielleicht wäre es bei einem Angehörigen gegangen, aber das könnte ich wiederum nicht). Irgendwie versteh ich das ja, es gibt schon in den Aufbahrungshallen ziemlich viele Leichentouristen, keine Ahnung, was das für Leute sind. Und bei den Bestattern werden erstens generationenlange familieninterne Berufsgeheimnisse gehütet und zweitens natürlich die Intimsphäre der Verstorbenen bzw. Angehörigen geschützt. Man kann den Beruf angeblich nicht einfach so ergreifen, sondern wird in eine Bestatterfamilie geboren und übernimmt.
Andererseits: es müsste sogar Führungen für Schulklassen geben, jeder müsste über die letzten Dinge (soweit sie noch irdisch gehandhabt werden) Bescheid wissen. Wir werden sozusagen aufgeklärt, aber nicht abgeklärt, wissen früh, wie man Menschen herbeizaubert, aber nicht, wie man sie wieder wegschafft.
… Vielleicht kommt das ja noch (oder wieder), das mit der Aufklärung dauerte auch ein Weilchen. Benjamin macht somit gerade einen Anfang.
… und? Darfst Du mit?
(Sogar ein Level tiefer, dieser Hermetismus: Ich wollte einmal mit einem Kollegen, der Medizin studierte, zur Sezierstunde. Nur gucken. Ich selbst sezierte zu der Zeit wöchentlich Kühe, Schweine, Hühner, Schafe, Fische; das Fach nannte sich „vergleichende Anatomie & Physiologie“, worinnen der Mensch ebenso enthalten war, nur hatten wir an der Agro-Abteilung keine menschlichen Leichen zur Verfügung. Fachlich stand ich in Sezierhinsicht & Anatomie genau auf dem gleichen Level wie der Kollege – ging aber nicht, aus „Pietätsgründen“. Sowas macht schon ranzig.)