Whale – © by basgitaar@deviantart.com
••• Ich kenne keinen, der sich auf Yom Kippur freut. 25 Stunden ohne Essen und Trinken, die man zum größten Teil in der Synagoge verbringt, das ist kein Spaziergang. Für mich ist es gerade die ausufernde Liturgie, die den Tag zumeist doch schnell vorübergehen lässt. Sie beginnt gleich mit einem Höhepunkt: Kol Nidre, das dreimal wiederholt wird, meist gesungen in der aufwühlenden Komposition von Max Bruch.
Hier in München bleiben nach dem Abendgottesdienst einige Männer noch für eine weitere Dreiviertelstunde in der Synagoge, um die »Shirei ha-Jichud« des Rabbi Judah HaChassid zu beten. Das sind sieben mystische Hymnen auf die Einzigkeit des Ewigen. Das sind sehr intensive, aber auch schwierige Texte. Seit Jahren habe ich vor, eine aufwändig gestaltete hebräisch-deutsche Ausgabe mit Kommentaren herauszubringen, um diesen Brauch in Deutschland auch Jüngeren wieder nahezubringen. Bislang ist das Projekt jedoch nicht zustandegekommen, weil die Kosten für die Erschließung, Übersetzung und Kommentierung des Textes zu hoch wären.
Am nächsten Tag ist die Wiederholung des Mussaf-Gebetes gegen frühen Nachmittag ein weiterer Höhepunkt. Noch einmal wird das »Unetane Tokef« gesungen. Danach trägt der Vorbeter eine poetische Beschreibung der »Avodah« vor, des genauen Ablaufs des Yom-Kippur-Gottesdienstes, wie er im Tempel abgehalten wurde.
Wenn am Nachmittag die Kräfte zu schwinden drohen, kommt mein Lieblingsstück. Nach der Torah-Vorlesung während des Mincha-Gottesdienstes wird das Buch Jona gelesen. Im Anschluss öffnen sich die Tore des Gebetes weit für das Schlussgebet Neila.
Das Abendgebet des Folgetages geht oft im Lärm der aus der Synagoge strömenden Menschenmengen unter.
Am Yom Kippur tragen verheiratete Männer schon vom Abend an weiß, unterm Tallis den Kittel, das Totenkleid. Zieht man es aus am folgenden Abend, ist die Erleichterung groß, aus vielen Gründen.
Moishe Oysher sings »Kol Nidre« – 1939 Yiddish film