Sonett Nr. 19

3. September 2009

Nur eines möcht ich nicht: daß du mich fliehst.
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst.
Denn wenn du taub wärst, braucht ich, was du sagst
Und wenn du stumm wärst, braucht ich, was du siehst

Und wenn du blind wärst, möcht ich dich doch sehn.
Du bist mir beigesellt, als meine Wacht:
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn!

So gilt kein: »Laß mich, denn ich bin verwundet!«
So gilt kein »Irgendwo« und nur ein »Hier«
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.

Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei.
Ich aber brauche dich, wie’s immer sei.
Ich sage ich und könnt auch sagen wir.

Bertolt Brecht (1898-1956)

••• Die kleine Reihe mit Liebesgedichten soll einen würdigen Abschluss finden. Und da wir mit einem Sonett von Brecht begonnen haben, soll nach dem Quartett-Muster A-B-B-A auf BrechtFriedFried auch noch ein Brecht-Sonett folgen.

Zunächst dachte ich an »Das zehnte Sonett«:

Am liebsten aber nenne ich dich Muck,
Weil du mir, wenn du aufmuckst, so gefällst

Aber ich habe mich nun doch für das »Sonett Nr. 19« entschieden. Mein Verhältnis zu diesem Gedicht ist ambivalent. Schön zu lesen sind die ersten beiden Quartette ja schon, aber um Mikrometer schrammt Brecht hier am Kitsch vorbei. (In einem Liebesgedicht darf man das wohl.) Das erste Terzett alllerdings hat es mir angetan: »Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.« Wer mich kennt, weiß, dass mich dieser Vers seit vielen Jahren begleitet. Und mit dem Schluss, den ich gelungen finde, stehe ich dennoch persönlich auf Kriegsfuß. Mit der emotitionalen Abhängigkeit, dem Brauchen und Gebrauchtwerden und der tatsächlich daraus resultierenden Unfreiheit kann ich mich, je älter ich werde, immer weniger arrangieren. Oder soll ich sagen: abfinden?

Es gab andere Zeiten, da bin in diesem Gefühl aufgegangen.

Eine Reaktion zu “Sonett Nr. 19”

  1. Buch, gib mich frei › Turmsegler

    […] Leseransturm standhalten. Das Interesse des Publikums galt einem »alten« Post über Brechts »Sonett Nr. 19«. Das Gedicht spielte eine Rolle in einer Aufgabe der schriftlichen Abi-Prüfung Deutsch, die letzte […]

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