»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger
Gestern ist mir Nelson Rodrigues wieder über den Weg gelaufen.
Ich hatte eine Verabredung um halb zehn. Da ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dieser Stadt noch nicht vertraut bin und nur schlecht einschätzen kann, wie lange ich von A (meinem Zuhause) nach B (meiner Verabredung) brauche, brach ich an diesem Morgen kurz nach acht auf. Zu meiner Überraschung stand ich eine halbe Stunde später schon vor der gesuchten Tür. In Brasilien gehört es sich nicht, zu früh zu kommen. Also schlenderte ich weiter und fand mich nach fünf Minuten am Strand von Copacabana wieder. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne schien, einige Senioren spielten Strandvolley, ein paar wenige Frauen joggten die Promenade entlang. Ich setzte mich an eine Strandbar und bestellte einen frischgepressten Orangensaft.
Wie jeder, der nach einer längeren Absenz wieder nach Hause zurückkehrt und sich die lokalen Gepflogenheiten wieder angewöhnen muss, fühlte auch ich mich wie ein Fremdkörper in dieser Stadt. Das bevorstehende Treffen machte mich nervös, es war wichtig, dass ich die Gelegenheit, die sich mir bot, nicht durch einen kulturellen Fauxpas oder eine ungewollte Unhöflichkeit verspielte.
Es war jetzt viertel nach neun. Zeit also, aufzubrechen. An einem Fußgängerstreifen musste ich warten, bis die Ampel für den dichten Verkehr auf rot umschaltete. Neben mir stand eine alte Frau in Begleitung ihrer Betreuerin und wies mit ihrem Gehstock auf den vorbeibrausenden Verkehr.
»Es sind so viele!« rief die alte Dame aus. »Es sind so viele!«
»Keine Angst, Senhora«, lachte ich, »Sie müssen nur warten, bis die Ampel uns den Weg freimacht.«
Da schaute sie mich mit großen Augen an, musterte mich von oben bis unten und meinte strahlend: »Was für ein schöner Mann Sie sind!«
Ich bedankte mich für das Kompliment und richtete meine Gedanken wieder auf die unmittelbar bevorstehende Verabredung. Doch da schubste mich die Dame mit ihrem Gehstock an und fragte: »Tragen Sie mich auf Ihren Händen über die Strasse?«
Etwas verunsichert blickte ich auf die Betreuerin, doch diese schien sich nicht einmischen zu wollen. »Selbstverständlich«, sagte ich, denn ich wurde das Gefühl nicht los, diese 90-jährige Dame zu kennen. Aber woher? Sie war gealtert, natürlich. Die ehemals kräftigen Hüften wirkten jetzt zerbrechlich, die satten Rundungen hatten sich im Lauf der Jahre an rauen Lebensphasen zerrieben, aber die Leidenschaft in ihren flinken Augen war ungebrochen.
Als die Ampel den Verkehrsstrom zum Halten brachte und ich sie auf meinen Armen (sie umschlang dabei meinen Hals wie eine Geliebte) über die Straße trug, fiel es mir ein. Nelson Rodrigues hatte sie in einer seiner autobiographischen Kolumnen beschrieben und erzählt, wie sie, als ihr Mann sie im Schlafzimmer mit ihrem Liebhaber erwischte, mit einem Sonnenschirm, der damals zur modischen Ausstattung jeder Dame gehörte, nackt aus dem Fenster des im dritten Stockwerk gelegenen Apartments sprang und den Sturz unbeschadet überstand.
»Was ist aus Ihrem Mann geworden?« fragte ich sie, als wir die andere Straßenseite erreicht hatten.
Noch immer an mich geklammert, erzählte sie, dass er inzwischen verstorben sei. »Aber«, fügte sie augenzwinkernd hinzu, »ich habe wieder geheiratet. Einen jungen, kräftigen Mann.«
Jetzt musste ich mich aber wirklich verabschieden, wollte ich meine Verabredung nicht durch mein Zuspätkommen verärgern.
»Die Liebe fällt, wohin sie will«, seufzte sie zum Abschied. Dann, mit einem schelmischen Aufflackern in ihren Augen, fragte sie: »Sehen wir uns wieder?«
Ich zögerte, doch dann siegte meine Neugierde.
Es blieb mir wenig Zeit, mir auszumalen, mit welchem modischen Accessoire sie diesmal ihre Haut retten würde, denn wenig später klingelte ich pünktlich an der Tür, es knackste in der Gegensprechanlage, ich nannte meinen Namen, und meine Verabredung ließ mich ein.