Der freundliche Gast

26. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger


Foto aus dem Archiv von Werner Hediger

Lacerda beobachtete liebevoll seinen Schüler, der hungrig mit beiden Händen in den Teller griff und sich, wie das hier im brasilianischen Inland Sitte war, die Reisbällchen mit dem Daumen von der Handfläche in den Mund schob. Er reichte ihm eine Gabel und brachte ihm geduldig bei, wie sie zu bedienen war.

»Ein Politiker macht sich die Hände nie schmutzig«, belehrte Lúcio Lacerda den jungen Antônio Carlos Murillo schmunzelnd. »Das erste, was du lernen musst, ist, mit Besteck zu essen.«

Das war vor dreißig Jahren. Antônio Carlos Murillo geht bereits auf die fünfzig zu, Lacerda selbst muss jetzt um die siebzig sein. Wie viel ist in diesen Jahren seit seiner ersten Lektion geschehen! Antônio Carlos Murillo hat es vom Bürgermeister von Três Lagoas, diesem kleinen Städtchen im Bundesstaat Mato Grosso, bis in den Senat der Landesregierung geschafft. Ein langer, harter Weg liegt hinter ihm. Tauschgeschäfte und Gefälligkeiten, politische Freundesdienste und leise aber wirksame Drohungen hier und dort haben ihn ans Ziel gebracht. Wahlkämpfe und die nationale Agenda seiner Partei führten ihn kreuz und quer durchs Land, doch in die Ortschaft, in der alles begonnen hat, ist er seit Jahren nicht gekommen. Seit langem plagt ihn deshalb sein Gewissen, doch nun, sagt er sich, wird er die lange Nichtachtung gutzumachen wissen.

Bevor der Senator an das Rednerpult vor der Kirche von Três Lagoas tritt und zu einer feurigen Rede anhebt, wirft er noch kurz einen zufriedenen Blick auf den dunkelblauen Kasten mit den sorgsam auf rotes Samt gebetteten goldenen Messern, Gabeln, Löffeln und Kellen. Ein würdiges Geschenk, das er seinem Freund hier vor der versammelten Stadt überreichen will. Doch in der herbeigeströmten Menge sucht er vergeblich den Mann, dessentwegen er eigentlich gekommen ist. Nachdem der Senator seine Rede beendet hat, sprechen Honoratioren zu seinen Ehren, der Bürgermeister etwa und ein Bischof, doch der Mann, dessen Worte ihm am meisten bedeutet hätten, tritt nicht ans Rednerpult. Ungeduldig sitzt der Senator die Versammlung aus. Kaum ist sie beendet, lässt er sich zur Villa des Gesuchten fahren. Dort angekommen aber muss er erfahren, der Freund wohne dort nicht mehr. Man beschreibt ihm umständlich einen Weg, der ihn über löchrige Straßen zur Stadt hinaus führt.

Die schwere Staatskarosse kommt vor einer Lehmhütte mitten im Busch zum Stehen. Um das Haus herum ist eine kleine Lichtung geschlagen. Zwei nackte Buben spielen in einem Erdloch. Ein einsames Huhn pickt am Waldrand nach Ungeziefer.

»Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?« fragt der Senator den Fahrer.

Aber da erscheint bereits die Gestalt seines Freundes Lúcio Lacerda im Dunkel des Türrahmens. Der Senator springt aus dem Wagen und eilt seinem ehemaligen Förderer und Weggefährten entgegen. »Mein Freund!« ruft er, doch der weicht zurück.

Wenig später sitzt Antônio Carlos Murillo auf einem klapprigen, mit Ziegenhaut bespannten Hocker an einem wackligen, selbstgezimmerten Tisch. Durch eine schiefe Öffnung in der Wand beobachtet er, wie Lacerdas junge Frau im Hof ein Huhn einfängt und schlachtet.

Der Senator fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Er hat sich ihr Wiedersehen anders vorgestellt. Ein Fest hätte es werden sollen, kein Besuch in einem Armenhaus! Was ist nur aus dem wohlhabenden Apotheker und Lokalpolitiker geworden, der ihn damals praktisch von der Straße in seine Villa holte und ihm alles beibrachte, damit er es aus diesem elenden Kaff heraus schaffen konnte?

»Die Fördermittel aus der Hauptstadt, mit denen in unserer Gemeinde Schulen hätten gebaut werden sollen, trafen bei uns nie ein. Als ich erfuhr, dass das Geld von unseren eigenen Leuten abgezweigt worden war, trat ich aus unserer Partei aus«, erzählt Lacerda. Er wirkt alt, älter noch als seine siebzig Jahre.

Der Senator nickt, ein wenig abwesend. Aus der Küche riecht es verführerisch.

Seinem ehemaligen Förder ist nicht einmal das Besteck geblieben. Der Senator ringt nach Worten, als das gebratene Huhn auf den Tisch kommt. Was hier geschieht, ist nicht gut und gerecht schon gar nicht. Während er das zarte Fleisch mit den Fingern vom Knochen löst und in den Mund schiebt, fragt er sich, wie sein Freund bloß so tief hat fallen können. Aber die Höflichkeit verbietet es ihm, Lacerda danach zu fragen.

»Nachdem ich in die Opposition gewechselt hatte, hetzte mir jemand die Steuerbehörde an den Hals«, erzählt Lacerda mit gesenktem Blick weiter. »Bei unserem komplizierten Steuergesetz findet sich immer eine Unregelmäßigkeit. Man nahm mir alles.« Jetzt blickt er dem Senator direkt in die Augen: »Du hattest deine Hände dabei nicht im Spiel, oder?«

Der Senator hebt seine Hände in einer Geste der Unschuld.

In der Politik läuft es nun manchmal so – so leid es ihm um seinen Freund auch tut. Aber war nicht er es gewesen, der ihn in dieses Geschäft eingeführt hatte? Hatte er die Kunst der Wahlkampfrede nicht von ihm gelernt? Und hatte nicht er ihm das Spiel von Gefälligkeit und Schuld erklärt und mit die Strategie entwickelt, die ihn vor Jahren in sein erstes politisches Amt hob? Ihm hat er alles zu verdanken. Im Auto liegt der Koffer mit dem goldenen Besteck. Wer, wenn nicht Lacerda, der ihn trotz allem, was ihm widerfahren war, als Gast bei sich empfangen hat, hätte dieses fürstliche Geschenk verdient? Aber so, wie die Dinge jetzt stehen…

Als der Senator seine fetttriefenden Hände am Tischtuch abputzt, sagt Lacerda: »Es war unser letztes Huhn…« Jetzt liegt das Huhn dem Gast schwer im Magen. Dabei hat Lacerda, als er es für ihn opferte, nur getan, was die Gastfreundschaft gebietet.

Und die Regeln derselben Gastfreundschaft untersagen es dem Senator jetzt, das Besteck zu überreichen. Das wäre, sagt er sich, als würde er für die genossene Gastfreundschaft bezahlen wollen.

Eine Reaktion zu “Der freundliche Gast”

  1. Tom

    … Als der Senator seine fetttriefenden Hände am Tischtuch abputzt, sagt Lacerda: »Es war unser letztes Huhn…« Jetzt liegt das Huhn dem Gast schwer im Magen. …

    Ich kann es nicht mal genau begründen, aber diese Passage gefällt mir am Besten.

    Grüße

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