»Und ich werde reines Wasser über euch gießen, und ihr werdet rein werden von all euren Unreinheiten, und von euren Verirrungen werde ich euch reinigen.«
Ezekiel, 36:25
••• Man könnte meinen, die Chevra Kadischa (Heilige Bruderschaft) einer jüdischen Gemeinde sei nichts anderes als ein religiös ausgerichtetes Beerdigungsinstitut. Eine solche Charakterisierung greift jedoch viel zu kurz. Die heutigen Chevras folgen in Organisation und Aufgabe der im Jahre 1564 von Rabbi Eliezer Ashkenazi in Prag gegründeten Chevra Kadischa. Und deren Statuten und religiösen Richtlinien wurden von keinem Geringeren als dem Maharal verfasst, dem berühmten Rabbi Jehuda ben Bezalel Löw von Prag.
Die Tahara, die Vorbereitung des Leichnams für die Bestattung, ist denn auch ein sehr spiritueller Akt. Die jüdischen Vorstellungen vom Weg der Seele nach dem Tod sind nicht unbedingt konsistent. Allen gemeinsam ist jedoch die Ansicht, dass die Seele, also die Quintessenz des Menschen, nicht stirbt, sondern sich im Augenblick des Todes lediglich vom Körper, ihrem irdischen Gefäß, trennt. Ebenso, wie ein Torah-Schrein einen Status von Heiligkeit beanspruchen kann wegen der Torah-Rollen, die in ihm aufbewahrt werden, ist auch der menschliche Körper heilig, und zwar auch dann noch, wenn die Seele ihn verlassen hat. Allerdings wurde er »vom Tod berührt« und ist nun – obgleich heilig – tamei, rituell unrein. Und obwohl er diesen Status nicht mehr ablegen kann, wird das Ritual der Tahara, rituellen Reinigung, vollzogen, durch das er, lebte er noch, wieder rein geworden wäre. In einigen Gemeinden, habe ich gelesen, soll dies tatsächlich durch Untertauchen in einer eigens dafür vorgesehenen Mikwe geschehen. Meist ist dies jedoch nicht möglich, und der Leichnam wird mit tischah kavim (9 Kavim, ca. 18 l) Mikwe-Wassers übergossen. Dabei muss das Wasser kontinuierlich fließen und den gesamten Körper benetzen.
Obgleich das Übergießen mit den tischah kavim nur ein Element des gesamten Rituals ist, wird die gesamte, aus vielen Phasen bestehende Vorbereitung des Leichnams auf die Beerdigung als Tahara bezeichnet. Es beginnt mit der Vorbereitung des Sarges, der so einfach wie möglich sein soll und in dessen Boden drei Löcher gebohrt werden, um das »Zurückkehren zum Staub« zu beschleunigen. In Israel entfällt dies, da man dort in einem Sack beerdigt wird, ohne Sarg. Als nächstes werden die Tachrichim, die Totengewänder, vorbereitet, aus einfachstem Stoff, ohne Taschen, Nähte, Knoten. Sie werden speziell zugeschnitten. Hinzu kommt bei verheirateten Männern der Kittel, ebenfalls einfachst und weiß, den sie als symbolisches Totengewand an Rosch Haschana und Yom Kippur während des Gottesdienstes getragen haben. Anschließend wird der Körper in einer bestimmten Reihenfolge gewaschen, vom Kopf abwärts, von rechts nach links. Er wird abgetrocknet, bevor die tischah kavim über ihn gegossen werden. Nach erneutem Abtrocknen wird der Tote mit den Tachrichim bekleidet, in ein Leichentuch gewickelt und in den Sarg gelegt. Wird der Sarg nach der Tahara verschlossen, darf er nicht mehr geöffnet werden.
Oft kümmert sich die Chevra Kadischa heute auch um das Ausheben des Grabes. Dies muss jedoch nicht so sein. Und entgegen meiner bisherigen Vorstellung ist es die Aufgabe der Angehörigen, das Grab zu schließen, nicht die der Chevra Kadischa. De facto gehen die Helfer jedoch auch dabei zur Hand.
Die Mitglieder einer Chevra Kadischa sind in aller Regel Ehrenamtliche. Der Rosch, der sich um die Organisation kümmert, kann auch ein Angestellter der Gemeinde sein.
Das gesamte Ritual ist übrigens durch Gebete begleitet, die sowohl dem toten Körper als auch der Seele Trost spenden sollen.
Heute nachmittag habe ich Rav Jankel Berger zum ersten Mal getroffen, einen Belzer Chassid und Rosch der größten von drei Chevras hier in Antwerpen. Er ist Angestellter der Gemeinde. Ihm stehen 18 Männer und 13 Frauen ehrenamtlich zur Seite. Wir hatten uns für die Nacht verabredet, um u. a. die Tahara-Stube (hier im Krankenhaus) zu besichtigen. Eben jedoch kam er zu mir ins Hotel. Es gab einen Todesfall, und heute Nacht wird die Tahara stattfinden. Wir werden uns in der Belzer Synagoge treffen. Wir werden hingehen, wohin wir gehen wollten, jedoch nicht zur Besichtigung, sondern zu einer Mitzwa.
Am 19. August 2009 um 22:58 Uhr
Ich bin zurück und erstaunt, mit welch innerer Ruhe ich das alles durchlebt habe. In Antwerpen, denke ich, kann man als Jid beruhigt sterben.
Das Tahara-Stübel gehört zu einem großen Krankenhaus. Die nichtjüdischen Toten liegen in einem großen Raum in Kühlfächern hinter Stahltüren. Irritierend die Schilder an den Türen: weiß auf blauem Grund – Kind, rot auf weißem Grund – Autopsie. Die jüdischen Toten werden in ein Leintuch gewickelt, direkt im Tahara-Stübel auf den Wannentisch gelegt und bleiben dort, bis die Männer, respektive Frauen von der Chevra Kadischa kommen für die Tahara. Der Raum ist klimatisiert.
Meine Mikwe-Behauptung oben im Beitrag ist schon widerlegt. Im Tahara-Stübel hier gibt es eine Mikwe wie eine Badewanne, der Rand etwa auf Hüfthöhe. Sie ist gerade groß genug, um die nötigen 40 Seah Wasser zu fassen. Die Männer bekommen die Tahara in dieser Mikwe. Nur die Männer, denn es braucht drei oder vier starke Männer, um einen Leichnam behutsam darin abzulegen und wieder herauszuheben.
Mir wurden unterschiedliche Särge gezeigt. Zwei Modelle gibt es. Beim teureren Modell werden die Bretter nicht getackert, sondern mit Holznägeln genagelt. Und der Boden sieht fast wie ein Lattenrost aus, hat also viel mehr Öffnungen, als sie die ins Standardmodell gebohrten Löcher ausmachen.
Ich war bei den Belzern vor und nach der Tahara zum Davenen. Da falle ich natürlich extrem auf unter den Pajess-Trägern im Kaftan mit den harten runden Samthüten. Aber was für ein Gebet! So viele Leute da, dass man kaum einen Schritt machen konnte.
Morgen am frühen Nachmittag wird Jankel Berger mir den Friedhof zeigen. Er liegt auf der holländischen Seite.
Am 17. September 2009 um 12:32 Uhr
[…] anziehe – Vorgeschmack auf die Tachrichim, die Grabkleider – wird das nach meinen Erfahrungen in Antwerpen noch einmal eine ganz andere Dimension haben als in den Jahren […]
Am 24. September 2009 um 00:32 Uhr
[…] Toten nachts.« So sollte der erste Satz von »Diamond District« lauten. So dachte ich jedenfalls, bevor ich nach Antwerpen fuhr. Solche Recherchen sind aufwändig, aber ich liebe sie, denn sie rücken die Ideen […]
Am 19. November 2009 um 12:24 Uhr
[…] einsteigen, das für die meisten Leser vermutlich emotional eine Belastungsprobe darstellt: die Tahara, die Arbeit also der Heligen Bruderschaft. Die Tahara zu beschreiben, braucht ein wenig Raum, zumal […]