»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger
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Nelson Rodrigues, Journalist, Dramaturg und Dichter, starb 68-jährig an einem Sonntagmorgen in Rio de Janeiro. Die Berichte über jene Stunden, die unmittelbar auf seinen Tod folgten, gehen auseinander. Einige Quellen erzählen, er sei in der Badehose gestorben, zwischen den Zehen noch Sand vom morgendlichen Spaziergang am Strand, und dass seine Frau sich geweigert habe, ihm das Totenhemd anzuziehen. Andere berichten von langweiligen Fußballspielen, die an jenem Sonntagnachmittag in den Stadien von Rio de Janeiro ausgetragen wurden. Langweilig, weil Rodrigues, der durch seine Reportagen den Fußball zur Kunstform erhoben und den Partien oft erst nachträglich auf seiner Schreibmaschine zu unvergesslichen Momenten verholfen hatte, tot war. Am populärsten aber ist jene Geschichte, wonach Nelson Rodrigues, wenige Stunden nach seinem Herzstillstand, bei der Sonntagsziehung den Lotto-Sechser gewann.
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Obwohl Wikipedia und namhafte, brasilianische Literaturportale die letzte Version bestätigen und hartnäckig weiterverbreiten – sie ist falsch. Nelson Rodrigues‘ autobiographische Chroniken, die er zwischen 1967 und 68 veröffentlichte, sind bis zum letzten Absatz sauber durchnummeriert. Sie zeugen von der ungeheuren Sorgfalt, mit der er sein Leben fiktionalisierte. Nichts weist darauf hin, dass er sein Schicksal dem Zufall überlassen oder gar damit gespielt hätte.
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Ich habe Nelson Rodrigues nachgeahmt. Wie er habe auch ich meine Erinnerungen in eine zwingende Form gebracht, und es hat mich dahin gebracht, wo ich heute stehe: mit leeren Händen vor dem Nichts. Alles, was mir geblieben ist, sind Geschichten, die noch nicht erzählt sind, weil sie sich dieser Form verweigert haben. Und diese Geschichten, sie alle raunen mir zu: Du hast Glück, dass du noch lebst. Nelson Rodrigues wollte dieses Glück nicht.
…
Deshalb: Schluss mit den Zahlen. Vielleicht wird es mir so leichter fallen, mein Leben neu zu erfinden. In wenigen Tagen werde ich nach Brasilien fliegen und nach langen Monaten der Trennung meine Frau und meine Tochter endlich wieder in die Arme nehmen können, um sodann unser Leben neu aufzubauen. Wir werden alles Glück dieser Welt brauchen.