Auf dem Küchentisch

9. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

1
Nachdem ich der Frau, die ihre Hand auf meine rechte Schulter gelegt hatte, einen Namen gegeben hatte, wollte ich von unserer letzten Begegnung erzählen und diese als Anlass dafür hernehmen, zu illustrieren, was mir an der Schweiz so fremd geblieben und wie fremd mir der brasilianische Gegensatz dazu geworden ist. Heute hätte ich den Text publizieren sollen, doch während ich ihn überarbeitete, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Was ich da tat, war unaufrichtig, unlauter. Unsorgfältig.

2
Der Versuch, mir den Abschied von der Schweiz schwer zu machen, bedeutet eben auch, mir die Ankunft in Brasilien nicht gerade leicht zu machen. Ich habe Angst vor dem, was mich in Rio erwartet. Angst, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet. Deshalb wohl erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich alles auf Klischees reduzieren möchte. Mich ablenken vom Komplexen, Widersprüchlichen, Unvorhersehbaren. Der sorgfältige Blick auf die Schweiz aber zeigt mir kein Land, sondern Menschen. Karoline.

3
Karoline liebte mich nicht lange, und wir beide schienen die Trennung rasch verdaut zu haben. Kaum zwei Wochen waren vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, da rief sie mich im Büro an und fragte, ob wir zusammen zu Mittag essen könnten. Sie sah umwerfend aus. In kurzem Rock und engem Top erwartete sie mich im Restaurant. Hinreißend sah sie aus, glücklich. Sie verriet mir, dass sie mich am Bahnhof in Zürich in Begleitung einer anderen Frau gesehen und wie ich – auch ich – glücklich ausgesehen hatte. »Man weiß sofort«, sagte sie leise, »wenn man den richtigen Partner getroffen hat, nicht wahr?« Dann erzählte sie mir von ihrem Richtigen. Urs hieß er, ein Arbeitskollege, der schon lange ein Auge auf sie geworfen hatte.

4
Bevor wir uns verabschiedeten, schob sie mir unter dem Tisch die angebrochene Packung Kondome zu, die ich bei ihr vergessen hatte, und meinte: »Das letzte Mal, als wir miteinander schliefen, da wolltest du eigentlich gar nicht mehr?« Es war mehr Feststellung als Frage. Vielleicht hätte ich mir da, bevor ich den letzten Schluck aus meiner Kaffeetasse nahm und sie zum Abschied auf die Wange küsste, eine Ausrede einfallen lassen sollen, es abstreiten vielleicht, aber ich nickte nur.

5
Worauf ich hinaus will: Die Wahrung von Haltung und Anstand, mit der Karoline auf mein Nicken reagierte, verrät mir nichts über die Schweiz. Da gibt es nichts hineinzulesen, nichts ist daraus abzuleiten, nichts Allgemeingültiges, keine Regel, kein Klischee. Karoline steht nicht für die Schweiz, sie steht für sich und für ihre Vorliebe für Sex auf dem Küchentisch, die ich nicht teilte. Ich hätte es ihr nur sagen müssen, als sie mich fragte und mich in die Küche zog, doch ich nickte nur.

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