Die Narbe an meinem Bein.

2. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

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Ich sei meiner eigenen Fiktion aufgesessen. Ein Leben passe in kein Buch, schrieb mir ein Freund als Antwort auf meine letzte Kolumne. So einfach verliere sich ein Leben nicht. Ich müsse mir bloß meinen Körper anschauen, meinte er. Die Narbe an meinem Bein sei noch immer da. Wetten, dass du dich daran erinnerst, …

2

… wie gerne ich als Kind mit Messern spielte.

3

Nach dem Mittagessen, wenn sich alle anderen für die Siesta auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, schlich ich in die Küche, öffnete die Schublade neben der Spüle und bewunderte die großen Küchenmesser, die darin lagen. Die langen, scharfen Klingen faszinierten mich. Ein Zauber ging von ihnen aus, dem ein Junge sich nicht entziehen konnte. In dem blankpolierten Stahl glaubte ich nicht nur die Bilder der zahlreichen Karl May-Bände zu erkennen, die in der Schulbibliothek standen, sondern auch die wilden Indianer, die in nur wenigen 100 Kilometern Entfernung vom Missionsinternat auf Urwaldlichtungen lebten und in deren Leben Messer eine wichtige Rolle spielten.

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Neben dem Internat mit seinen Schlafhäusern, Schulgebäuden, Pausenplätzen und Fußballfeldern befand sich die Wycliff-Mission, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Wort Gottes den zahlreichen Indianerstämmen im brasilianischen Busch in ihrer eigenen Sprache zugänglich zu machen. Was mich als Kind daran besonders faszinierte, war die Flugzeugflotte, die diese Mission unterhielt. Oft stand ich an der ungeteerten Landebahn und sah zu, wie die Propellermaschinen abhoben, um Bibelübersetzer in den Busch zu fliegen. Besonders gut aber erinnere ich mich an jenen Tag, an dem eine Maschine mit zwei Häuptlingen eintreffen sollte, die sich bei einem Messerkampf halbtot gestochen hatten. Später hörte ich, dass die beiden den Kampf selbst im Flugzeug noch hatten fortsetzen wollen, und nur mit Mühe hatte man sie daran hindern können, einander in der Luft den Rest zu geben.

5

Wir Kinder hatten nicht zusehen dürfen, als die beiden Streithähne im Hangar in die Ambulanzen verladen wurden. Ich war erst sechs, aber ein Kind in meinem Alter brauchte kein Blut sehen, um sich vorzustellen, was Messer anrichten konnten. Wir bastelten uns Messer aus Stecken und spielten Indianer. Bald wurde mir klar, dass es in einem Messerkampf auf Geschicklichkeit ankam. Ich war nicht besonders geschickt, verlor aber auch nicht gern. Messer, entdeckte ich da, konnte man auch werfen.

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Mit einem Fleischermesser schlich ich mich aus der Küche in den Garten. Dass ich etwas Verbotenes tat, war mir klar. Dennoch klemmte ich die Messerspitze zwischen Daumen und Zeigefinger, hob die Hand über den Kopf und versuchte, die Zielscheibe zu treffen, die ich an einem Baum angebracht hatte. Das Messer wirbelte auf den Stamm zu, doch statt mit der Klinge im Holz stecken zu bleiben, schlug es mit dem Schaft auf, prallte ab und schoss so schnell auf mich zu, dass ich ihm nicht mehr ausweichen konnte.

7

Ich konnte die Wunde niemandem zeigen, weder einem Erwachsenen, denn sie war Beweis meiner Schuld, noch einem Spielkameraden, zeugte meine Verletzung doch von meiner Ungeschicklichkeit. Ein Indianer zeigte keine Schwäche. Notdürftig wusch und verband ich die Wunde. Als sie sich jedoch entzündete, die Haut sich dunkel färbte und sich darunter Eiter sammelte, sah ich mich gezwungen zu gestehen.

8

Die Narbe an meinem Bein sei noch immer da, schrieb mir der Freund. Und was er mir damit sagen wollte, glaube ich, ist, dass ich meine Identität nicht allein in oder über die Sprache suchen soll. Identifikation geschieht auch über den Körper. Ich erkenne mich, wenn ich in den Spiegel schaue. Heute morgen entdeckte ich eine Tätowierung auf meinem rechten Schulterblatt.

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